Kirchthurm, woran oben der Zeiger und das Zifferblatt der Uhr zur Hälfte zerstört ist, so daß es aussieht, als wolle die Zeit sich selber ver¬ nichten -- über dem ganzen Platz liegt derselbe romantische Zauber, der uns so lieblich anweht aus den phantastischen Dichtungen des Ludovico Ariosto oder des Ludovico Tieck.
Nahe bey diesem Platze steht ein Haus, das man, wegen eines Hutes, der über dem inneren Thor in Stein gemeißelt ist, für den Pallast der Capulets hält. Es ist jetzt eine schmutzige Kneipe für Fuhrleute und Kutscher, und als Herberge¬ schild hängt davor ein rother, durchlöcherter Blechhut. Unfern, in einer Kirche, zeigt man auch die Capelle, worin der Sage nach, das unglückliche Liebespaar getraut worden. Ein Dich¬ ter besucht gern solche Orte, wenn er auch selbst lächelt über die Leichtgläubigkeit seines Herzens. Ich fand in dieser Capelle ein einsames Frauen¬
Kirchthurm, woran oben der Zeiger und das Zifferblatt der Uhr zur Haͤlfte zerſtoͤrt iſt, ſo daß es ausſieht, als wolle die Zeit ſich ſelber ver¬ nichten — uͤber dem ganzen Platz liegt derſelbe romantiſche Zauber, der uns ſo lieblich anweht aus den phantaſtiſchen Dichtungen des Ludovico Arioſto oder des Ludovico Tieck.
Nahe bey dieſem Platze ſteht ein Haus, das man, wegen eines Hutes, der uͤber dem inneren Thor in Stein gemeißelt iſt, fuͤr den Pallaſt der Capulets haͤlt. Es iſt jetzt eine ſchmutzige Kneipe fuͤr Fuhrleute und Kutſcher, und als Herberge¬ ſchild haͤngt davor ein rother, durchloͤcherter Blechhut. Unfern, in einer Kirche, zeigt man auch die Capelle, worin der Sage nach, das ungluͤckliche Liebespaar getraut worden. Ein Dich¬ ter beſucht gern ſolche Orte, wenn er auch ſelbſt laͤchelt uͤber die Leichtglaͤubigkeit ſeines Herzens. Ich fand in dieſer Capelle ein einſames Frauen¬
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Kirchthurm, woran oben der Zeiger und das
Zifferblatt der Uhr zur Haͤlfte zerſtoͤrt iſt, ſo daß
es ausſieht, als wolle die Zeit ſich ſelber ver¬
nichten — uͤber dem ganzen Platz liegt derſelbe
romantiſche Zauber, der uns ſo lieblich anweht
aus den phantaſtiſchen Dichtungen des Ludovico
Arioſto oder des Ludovico Tieck.
Nahe bey dieſem Platze ſteht ein Haus, das
man, wegen eines Hutes, der uͤber dem inneren
Thor in Stein gemeißelt iſt, fuͤr den Pallaſt der
Capulets haͤlt. Es iſt jetzt eine ſchmutzige Kneipe
fuͤr Fuhrleute und Kutſcher, und als Herberge¬
ſchild haͤngt davor ein rother, durchloͤcherter
Blechhut. Unfern, in einer Kirche, zeigt man
auch die Capelle, worin der Sage nach, das
ungluͤckliche Liebespaar getraut worden. Ein Dich¬
ter beſucht gern ſolche Orte, wenn er auch ſelbſt
laͤchelt uͤber die Leichtglaͤubigkeit ſeines Herzens.
Ich fand in dieſer Capelle ein einſames Frauen¬
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/148>, abgerufen am 21.11.2024.
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