Heine, Heinrich: [Rezension:] Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel. 2 Theile. Stuttgart, bei Gebrüder Frankh. 1828. In: Neue allgemeine politische Annalen, Band 27, Heft 3 (1828), S. 284–298.Menzel von Goethe spricht, nicht stark genug unser Erschrecken Woher aber kommt diese Härte gegen Goethe, wie sie Menzel von Goethe ſpricht, nicht ſtark genug unſer Erſchrecken Woher aber kommt dieſe Härte gegen Goethe, wie ſie <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0014" n="296"/> Menzel von Goethe ſpricht, nicht ſtark genug unſer Erſchrecken<lb/> ausdrücken. Er ſagt manch allgemein wahres Wort, das<lb/> aber nicht auf Goethe angewendet werden dürfte. Beim<lb/> Lesen jener Blätter, worin über Goethe geſprochen, oder viel-<lb/> mehr abgesſprochen wird, ward uns plötzlich ſo ängſtlich zu<lb/> Muthe wie vorigen Sommer, als ein Banquier in London<lb/> uns, der Kurioſität wegen, einige falſche Banknoten zeigte;<lb/> wir konnten dieſe Papiere nicht ſchnell genug wieder aus Hän-<lb/> den geben, aus Furcht, man möchte plötzlich uns ſelbſt als<lb/> Verfertiger derſelben anklagen und ohne Umſtände vor <hi rendition="#aq">old<lb/> Bailly</hi> aufhängen. Erſt nachdem wir an den Menzelſchen<lb/> Blättern über Goethe unſere ſchaurige Neugier befriedigt, er-<lb/> wachte der Unmuth. Wir beabſichtigen keineswegs eine Ver-<lb/> theidigung Goethe's; wir glauben die Menzelſche Lehre „Goethe<lb/> ſey kein Genie, ſondern ein Talent“ wird nur bei Wenigen<lb/> Eingang finden, und ſelbſt dieſe Wenigen werden doch zuge-<lb/> ben, daß Goethe dann und wann das Talent hat, ein Genie<lb/> zu ſeyn. Aber ſelbſt wenn Menzel Recht hätte, würde es ſich<lb/> nicht geziemt haben, ſein hartes Urtheil ſo hart hinzuſtellen.<lb/> Es iſt doch immer Goethe, der König, und ein Rezenſent,<lb/> der an einen ſolchen Dichterkönig ſein Meſſer legt, ſollte doch<lb/> eben ſo viel Courtoiſie beſitzen wie jener engliſche Scharfrichter,<lb/> welcher Karl <hi rendition="#aq">I.</hi> köpfte, und ehe er dieſes kritiſche Amt vollzog,<lb/> vor dem königlichen Delinquenten niederkniete und ſeine Ver-<lb/> zeihung erbat.</p><lb/> <p>Woher aber kommt dieſe Härte gegen Goethe, wie ſie<lb/> uns hie und da ſogar bei den ausgezeichnetſten Geiſtern be-<lb/> merkbar worden? Vielleicht eben weil Goethe, der nichts<lb/> als <hi rendition="#aq">Primus inter pares</hi> ſeyn ſollte, in der Republik der<lb/> Geiſter zur Tyrannis gelangt iſt, betrachten ihn viele große<lb/> Geiſter mit geheimen Groll. Sie ſehen in ihm ſogar einen<lb/> Ludwig <hi rendition="#aq">XI</hi>, der den geiſtigen hohen Adel unterdrückt, indem<lb/> er den geiſtigen <hi rendition="#aq">Tiers état</hi>, die liebe Mittelmäßigkeit, empor<lb/> hebt. Sie ſehen, er ſchmeichelt den reſpektiven Korporatio-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [296/0014]
Menzel von Goethe ſpricht, nicht ſtark genug unſer Erſchrecken
ausdrücken. Er ſagt manch allgemein wahres Wort, das
aber nicht auf Goethe angewendet werden dürfte. Beim
Lesen jener Blätter, worin über Goethe geſprochen, oder viel-
mehr abgesſprochen wird, ward uns plötzlich ſo ängſtlich zu
Muthe wie vorigen Sommer, als ein Banquier in London
uns, der Kurioſität wegen, einige falſche Banknoten zeigte;
wir konnten dieſe Papiere nicht ſchnell genug wieder aus Hän-
den geben, aus Furcht, man möchte plötzlich uns ſelbſt als
Verfertiger derſelben anklagen und ohne Umſtände vor old
Bailly aufhängen. Erſt nachdem wir an den Menzelſchen
Blättern über Goethe unſere ſchaurige Neugier befriedigt, er-
wachte der Unmuth. Wir beabſichtigen keineswegs eine Ver-
theidigung Goethe's; wir glauben die Menzelſche Lehre „Goethe
ſey kein Genie, ſondern ein Talent“ wird nur bei Wenigen
Eingang finden, und ſelbſt dieſe Wenigen werden doch zuge-
ben, daß Goethe dann und wann das Talent hat, ein Genie
zu ſeyn. Aber ſelbſt wenn Menzel Recht hätte, würde es ſich
nicht geziemt haben, ſein hartes Urtheil ſo hart hinzuſtellen.
Es iſt doch immer Goethe, der König, und ein Rezenſent,
der an einen ſolchen Dichterkönig ſein Meſſer legt, ſollte doch
eben ſo viel Courtoiſie beſitzen wie jener engliſche Scharfrichter,
welcher Karl I. köpfte, und ehe er dieſes kritiſche Amt vollzog,
vor dem königlichen Delinquenten niederkniete und ſeine Ver-
zeihung erbat.
Woher aber kommt dieſe Härte gegen Goethe, wie ſie
uns hie und da ſogar bei den ausgezeichnetſten Geiſtern be-
merkbar worden? Vielleicht eben weil Goethe, der nichts
als Primus inter pares ſeyn ſollte, in der Republik der
Geiſter zur Tyrannis gelangt iſt, betrachten ihn viele große
Geiſter mit geheimen Groll. Sie ſehen in ihm ſogar einen
Ludwig XI, der den geiſtigen hohen Adel unterdrückt, indem
er den geiſtigen Tiers état, die liebe Mittelmäßigkeit, empor
hebt. Sie ſehen, er ſchmeichelt den reſpektiven Korporatio-
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