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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787.

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er ihn nicht gewissermaßen übersieht, und her-
aus kann, wenn er will: sonst trift am Ende
das Sprichwort ein "der Krug geht so lange
zu Wasser, bis er zerbricht." Wenn Lucinde
deinen Geist hätte bey ihrer Jugend und Schön-
heit: o dann stünden ihr Königreiche zu Gebot;
so aber mußt du sie erst in das alte Korinth oder
Athen bringen, wenn sie nach dir glücklich seyn
soll. Und noch dazu scheint mir ihr Charakter
sich nie recht zu bequemen. Mit einem Worte:
so bald ein Weib eines Mannes Frau wird, be-
gibt es sich im Punkt der Liebe seiner Freyheit,
hernach eine andre Wahl zu treffen; und was
opfert der Mann nicht dafür auf, daß ihm dasselbe
treu seyn möge? Schönheit und Keuschheit bey-
sammen wird ewig eine höhere Vollkommenheit
seyn, als Lais und Phryne, setze sie in einen
Staat, in welchen du willst. Doch red ich,
was Lucinden betrift, in der Ferne; und ein ein-
ziger Blick auf sie und wenig Worte von ihren
Lippen könnten vielleicht meine eigne Moral weg-

ban-

er ihn nicht gewiſſermaßen uͤberſieht, und her-
aus kann, wenn er will: ſonſt trift am Ende
das Sprichwort ein „der Krug geht ſo lange
zu Waſſer, bis er zerbricht.“ Wenn Lucinde
deinen Geiſt haͤtte bey ihrer Jugend und Schoͤn-
heit: o dann ſtuͤnden ihr Koͤnigreiche zu Gebot;
ſo aber mußt du ſie erſt in das alte Korinth oder
Athen bringen, wenn ſie nach dir gluͤcklich ſeyn
ſoll. Und noch dazu ſcheint mir ihr Charakter
ſich nie recht zu bequemen. Mit einem Worte:
ſo bald ein Weib eines Mannes Frau wird, be-
gibt es ſich im Punkt der Liebe ſeiner Freyheit,
hernach eine andre Wahl zu treffen; und was
opfert der Mann nicht dafuͤr auf, daß ihm daſſelbe
treu ſeyn moͤge? Schoͤnheit und Keuſchheit bey-
ſammen wird ewig eine hoͤhere Vollkommenheit
ſeyn, als Lais und Phryne, ſetze ſie in einen
Staat, in welchen du willſt. Doch red ich,
was Lucinden betrift, in der Ferne; und ein ein-
ziger Blick auf ſie und wenig Worte von ihren
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[264/0270] er ihn nicht gewiſſermaßen uͤberſieht, und her- aus kann, wenn er will: ſonſt trift am Ende das Sprichwort ein „der Krug geht ſo lange zu Waſſer, bis er zerbricht.“ Wenn Lucinde deinen Geiſt haͤtte bey ihrer Jugend und Schoͤn- heit: o dann ſtuͤnden ihr Koͤnigreiche zu Gebot; ſo aber mußt du ſie erſt in das alte Korinth oder Athen bringen, wenn ſie nach dir gluͤcklich ſeyn ſoll. Und noch dazu ſcheint mir ihr Charakter ſich nie recht zu bequemen. Mit einem Worte: ſo bald ein Weib eines Mannes Frau wird, be- gibt es ſich im Punkt der Liebe ſeiner Freyheit, hernach eine andre Wahl zu treffen; und was opfert der Mann nicht dafuͤr auf, daß ihm daſſelbe treu ſeyn moͤge? Schoͤnheit und Keuſchheit bey- ſammen wird ewig eine hoͤhere Vollkommenheit ſeyn, als Lais und Phryne, ſetze ſie in einen Staat, in welchen du willſt. Doch red ich, was Lucinden betrift, in der Ferne; und ein ein- ziger Blick auf ſie und wenig Worte von ihren Lippen koͤnnten vielleicht meine eigne Moral weg- ban-

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Zitationshilfe: [Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/270>, abgerufen am 22.11.2024.