Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

Im Nackenden der bey uns gewöhnlich bekleideten
Theile, also des ganzen Körpers bis auf Kopf und
Hände und Füße können wir den Alten nicht gleich
kommen, weil wir ihre Gymnasien und Ther-
men nicht haben. In Köpfen, Händen und
Beinen und Kindern halten wir ihnen vielleicht
die Wage: in so weit wir noch Periklesse, Plato-
nen, Alkibiadesse, und Aspasien und Phrynen
haben. Die höchste Vollkommenheit ist überall
der letzte Endzweck der Kunst, sie mag Körper
oder Seele, oder beydes zugleich darstellen;
und nicht die bloße getroffene Aehnlichkeit der
Sache, und das kalte Vergnügen darüber. Der
Meister sucht sich dann unter den Menschen,
die ihn umgeben, zu seiner Darstellung das beste
Urbild aus, und erhebt dessen individuellen Cha-
rakter mit seiner Kunst zum Ideal. Die Schön-
heit muß allgemein: der Charakter aber individuell
seyn, sonst täuscht er nicht, und thut keine Wir-
kung; und das Individuelle kann der Mensch

so

Im Nackenden der bey uns gewoͤhnlich bekleideten
Theile, alſo des ganzen Koͤrpers bis auf Kopf und
Haͤnde und Fuͤße koͤnnen wir den Alten nicht gleich
kommen, weil wir ihre Gymnaſien und Ther-
men nicht haben. In Koͤpfen, Haͤnden und
Beinen und Kindern halten wir ihnen vielleicht
die Wage: in ſo weit wir noch Perikleſſe, Plato-
nen, Alkibiadeſſe, und Aspaſien und Phrynen
haben. Die hoͤchſte Vollkommenheit iſt uͤberall
der letzte Endzweck der Kunſt, ſie mag Koͤrper
oder Seele, oder beydes zugleich darſtellen;
und nicht die bloße getroffene Aehnlichkeit der
Sache, und das kalte Vergnuͤgen daruͤber. Der
Meiſter ſucht ſich dann unter den Menſchen,
die ihn umgeben, zu ſeiner Darſtellung das beſte
Urbild aus, und erhebt deſſen individuellen Cha-
rakter mit ſeiner Kunſt zum Ideal. Die Schoͤn-
heit muß allgemein: der Charakter aber individuell
ſeyn, ſonſt taͤuſcht er nicht, und thut keine Wir-
kung; und das Individuelle kann der Menſch

ſo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0404" n="398"/>
Im Nackenden der bey uns gewo&#x0364;hnlich bekleideten<lb/>
Theile, al&#x017F;o des ganzen Ko&#x0364;rpers bis auf Kopf und<lb/>
Ha&#x0364;nde und Fu&#x0364;ße ko&#x0364;nnen wir den Alten nicht gleich<lb/>
kommen, weil wir ihre Gymna&#x017F;ien und Ther-<lb/>
men nicht haben. In Ko&#x0364;pfen, Ha&#x0364;nden und<lb/>
Beinen und Kindern halten wir ihnen vielleicht<lb/>
die Wage: in &#x017F;o weit wir noch Perikle&#x017F;&#x017F;e, Plato-<lb/>
nen, Alkibiade&#x017F;&#x017F;e, und Aspa&#x017F;ien und Phrynen<lb/>
haben. Die ho&#x0364;ch&#x017F;te Vollkommenheit i&#x017F;t u&#x0364;berall<lb/>
der letzte Endzweck der Kun&#x017F;t, &#x017F;ie mag Ko&#x0364;rper<lb/>
oder Seele, oder beydes zugleich dar&#x017F;tellen;<lb/>
und nicht die bloße getroffene Aehnlichkeit der<lb/>
Sache, und das kalte Vergnu&#x0364;gen daru&#x0364;ber. Der<lb/>
Mei&#x017F;ter &#x017F;ucht &#x017F;ich dann unter den Men&#x017F;chen,<lb/>
die ihn umgeben, zu &#x017F;einer Dar&#x017F;tellung das be&#x017F;te<lb/>
Urbild aus, und erhebt de&#x017F;&#x017F;en individuellen Cha-<lb/>
rakter mit &#x017F;einer Kun&#x017F;t zum Ideal. Die Scho&#x0364;n-<lb/>
heit muß allgemein: der Charakter aber individuell<lb/>
&#x017F;eyn, &#x017F;on&#x017F;t ta&#x0364;u&#x017F;cht er nicht, und thut keine Wir-<lb/>
kung; und das Individuelle kann der Men&#x017F;ch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0404] Im Nackenden der bey uns gewoͤhnlich bekleideten Theile, alſo des ganzen Koͤrpers bis auf Kopf und Haͤnde und Fuͤße koͤnnen wir den Alten nicht gleich kommen, weil wir ihre Gymnaſien und Ther- men nicht haben. In Koͤpfen, Haͤnden und Beinen und Kindern halten wir ihnen vielleicht die Wage: in ſo weit wir noch Perikleſſe, Plato- nen, Alkibiadeſſe, und Aspaſien und Phrynen haben. Die hoͤchſte Vollkommenheit iſt uͤberall der letzte Endzweck der Kunſt, ſie mag Koͤrper oder Seele, oder beydes zugleich darſtellen; und nicht die bloße getroffene Aehnlichkeit der Sache, und das kalte Vergnuͤgen daruͤber. Der Meiſter ſucht ſich dann unter den Menſchen, die ihn umgeben, zu ſeiner Darſtellung das beſte Urbild aus, und erhebt deſſen individuellen Cha- rakter mit ſeiner Kunſt zum Ideal. Die Schoͤn- heit muß allgemein: der Charakter aber individuell ſeyn, ſonſt taͤuſcht er nicht, und thut keine Wir- kung; und das Individuelle kann der Menſch ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/404
Zitationshilfe: [Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/404>, abgerufen am 17.05.2024.