heut zu Tag in einem Zustande von immerwäh- render Verzweiflung; er sieht die Vollkommen- heit vor sich, und erkennt deutlich die Unmög- lichkeit, sie zu erreichen. Und diese Wermuth im Herzen mildert das allgemeinste Lob nicht. Es ist damit nicht genug gethan, ein Bildchen einzelner schöner Natur wegzufangen! Dieß bleibt jedem Fremden, wie alles bloße Porträt, unverständlich, und er kann es nicht mit Saft und Kraft genießen; vielweniger damit, daß er ein Knie, einen Unterleib, eine Brust den Al- ten wegstiehlt, und gleichsam mit etlichen Phra- sen aus dem Demosthenes oder Cicero ihre Spra- che sprechen und den großen Redner machen will: die Vollkommenheit des Nackenden vom Menschen, als des höchsten Vorwurfs der Kunst, und seiner mannichfaltigen Form und Bewegung ist unserm Sinn von Jugend auf in der Wirk- lichkeit verhüllt, oder zeigt sich ganz und gar nicht mehr in unsrer Welt.
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heut zu Tag in einem Zuſtande von immerwaͤh- render Verzweiflung; er ſieht die Vollkommen- heit vor ſich, und erkennt deutlich die Unmoͤg- lichkeit, ſie zu erreichen. Und dieſe Wermuth im Herzen mildert das allgemeinſte Lob nicht. Es iſt damit nicht genug gethan, ein Bildchen einzelner ſchoͤner Natur wegzufangen! Dieß bleibt jedem Fremden, wie alles bloße Portraͤt, unverſtaͤndlich, und er kann es nicht mit Saft und Kraft genießen; vielweniger damit, daß er ein Knie, einen Unterleib, eine Bruſt den Al- ten wegſtiehlt, und gleichſam mit etlichen Phra- ſen aus dem Demoſthenes oder Cicero ihre Spra- che ſprechen und den großen Redner machen will: die Vollkommenheit des Nackenden vom Menſchen, als des hoͤchſten Vorwurfs der Kunſt, und ſeiner mannichfaltigen Form und Bewegung iſt unſerm Sinn von Jugend auf in der Wirk- lichkeit verhuͤllt, oder zeigt ſich ganz und gar nicht mehr in unſrer Welt.
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[102/0110]
heut zu Tag in einem Zuſtande von immerwaͤh-
render Verzweiflung; er ſieht die Vollkommen-
heit vor ſich, und erkennt deutlich die Unmoͤg-
lichkeit, ſie zu erreichen. Und dieſe Wermuth
im Herzen mildert das allgemeinſte Lob nicht.
Es iſt damit nicht genug gethan, ein Bildchen
einzelner ſchoͤner Natur wegzufangen! Dieß
bleibt jedem Fremden, wie alles bloße Portraͤt,
unverſtaͤndlich, und er kann es nicht mit Saft
und Kraft genießen; vielweniger damit, daß er
ein Knie, einen Unterleib, eine Bruſt den Al-
ten wegſtiehlt, und gleichſam mit etlichen Phra-
ſen aus dem Demoſthenes oder Cicero ihre Spra-
che ſprechen und den großen Redner machen
will: die Vollkommenheit des Nackenden vom
Menſchen, als des hoͤchſten Vorwurfs der Kunſt,
und ſeiner mannichfaltigen Form und Bewegung
iſt unſerm Sinn von Jugend auf in der Wirk-
lichkeit verhuͤllt, oder zeigt ſich ganz und gar
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 2. Lemgo, 1787, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787/110>, abgerufen am 21.11.2024.
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