Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 2. Lemgo, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

nach zur Höhe wuchs; so schwer ist es, alles
Lebendige vollkommen zu bilden, und nichts,
was noch rührt und reizt, auszulassen, und da-
für bloß mathematische Linien und Placken hin-
zustellen. Das Ganze wird nur nach und nach
gewonnen; das Individuelle lebendige gei-
stige
bleibt aber immer das, was den großen
Menschen von dem andern unterscheidet. Und
so kann einer zwar ein ungleich größrer Künstler
als ein andrer, aber ein weit kleinrer Mensch
seyn. So war der Jupiter und die Minerva
des Phidias wahrscheinlich erhabner als manches
andre Bild, das nachher ein weit natürlicher
Fleisch und mehr lebendiges in der Materie hat-
te. Und darauf kömmts doch an, die unter-
scheidenden wesentlichen Züge von jedem Dinge
bestimmt zu fassen, und dem Empfinder und
Denker gleich darzustellen. Das Hauptver-
gnügen an einem Kunstwerke für einen weisen
Beobachter macht immer am Ende das Herz und

der

nach zur Hoͤhe wuchs; ſo ſchwer iſt es, alles
Lebendige vollkommen zu bilden, und nichts,
was noch ruͤhrt und reizt, auszulaſſen, und da-
fuͤr bloß mathematiſche Linien und Placken hin-
zuſtellen. Das Ganze wird nur nach und nach
gewonnen; das Individuelle lebendige gei-
ſtige
bleibt aber immer das, was den großen
Menſchen von dem andern unterſcheidet. Und
ſo kann einer zwar ein ungleich groͤßrer Kuͤnſtler
als ein andrer, aber ein weit kleinrer Menſch
ſeyn. So war der Jupiter und die Minerva
des Phidias wahrſcheinlich erhabner als manches
andre Bild, das nachher ein weit natuͤrlicher
Fleiſch und mehr lebendiges in der Materie hat-
te. Und darauf koͤmmts doch an, die unter-
ſcheidenden weſentlichen Zuͤge von jedem Dinge
beſtimmt zu faſſen, und dem Empfinder und
Denker gleich darzuſtellen. Das Hauptver-
gnuͤgen an einem Kunſtwerke fuͤr einen weiſen
Beobachter macht immer am Ende das Herz und

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0124" n="116"/>
nach zur Ho&#x0364;he wuchs; &#x017F;o &#x017F;chwer i&#x017F;t es, alles<lb/>
Lebendige vollkommen zu bilden, und nichts,<lb/>
was noch ru&#x0364;hrt und reizt, auszula&#x017F;&#x017F;en, und da-<lb/>
fu&#x0364;r bloß mathemati&#x017F;che Linien und Placken hin-<lb/>
zu&#x017F;tellen. Das Ganze wird nur nach und nach<lb/>
gewonnen; das <hi rendition="#fr">Individuelle lebendige gei-<lb/>
&#x017F;tige</hi> bleibt aber immer das, was den großen<lb/>
Men&#x017F;chen von dem andern unter&#x017F;cheidet. Und<lb/>
&#x017F;o kann einer zwar ein ungleich gro&#x0364;ßrer Ku&#x0364;n&#x017F;tler<lb/>
als ein andrer, aber ein weit kleinrer Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;eyn. So war der Jupiter und die Minerva<lb/>
des Phidias wahr&#x017F;cheinlich erhabner als manches<lb/>
andre Bild, das nachher ein weit natu&#x0364;rlicher<lb/>
Flei&#x017F;ch und mehr lebendiges in der Materie hat-<lb/>
te. Und darauf ko&#x0364;mmts doch an, die unter-<lb/>
&#x017F;cheidenden we&#x017F;entlichen Zu&#x0364;ge von jedem Dinge<lb/>
be&#x017F;timmt zu fa&#x017F;&#x017F;en, und dem Empfinder und<lb/>
Denker gleich darzu&#x017F;tellen. Das Hauptver-<lb/>
gnu&#x0364;gen an einem Kun&#x017F;twerke fu&#x0364;r einen wei&#x017F;en<lb/>
Beobachter macht immer am Ende das Herz und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0124] nach zur Hoͤhe wuchs; ſo ſchwer iſt es, alles Lebendige vollkommen zu bilden, und nichts, was noch ruͤhrt und reizt, auszulaſſen, und da- fuͤr bloß mathematiſche Linien und Placken hin- zuſtellen. Das Ganze wird nur nach und nach gewonnen; das Individuelle lebendige gei- ſtige bleibt aber immer das, was den großen Menſchen von dem andern unterſcheidet. Und ſo kann einer zwar ein ungleich groͤßrer Kuͤnſtler als ein andrer, aber ein weit kleinrer Menſch ſeyn. So war der Jupiter und die Minerva des Phidias wahrſcheinlich erhabner als manches andre Bild, das nachher ein weit natuͤrlicher Fleiſch und mehr lebendiges in der Materie hat- te. Und darauf koͤmmts doch an, die unter- ſcheidenden weſentlichen Zuͤge von jedem Dinge beſtimmt zu faſſen, und dem Empfinder und Denker gleich darzuſtellen. Das Hauptver- gnuͤgen an einem Kunſtwerke fuͤr einen weiſen Beobachter macht immer am Ende das Herz und der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787/124
Zitationshilfe: [Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 2. Lemgo, 1787, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787/124>, abgerufen am 21.11.2024.