Es ist wunderbar, wie das Leben aus der groben Materie hervorbricht und die Herzen ergreift; und man wird selbst zum glücklichen seeligen Kinde, wann das Volk so daran vorbey zieht, da und dort stille steht, und sich dieses und jenes schöne zeigt, sich dabey der Religion freut, und fromm und gut nach Hause geht.
Vor seinem Kindermorde muß jeder andre Künstler die Seegel streichen. Ich habe man- ches schöne Weib davor Thränen vergießen sehen, so rührend ist die Mutterliebe und die Unschuld der Kinder auf mancherley Art ausgedrückt. Die Mutter, welche mit ausgebreiteten Armen und flatternden Haaren im Schrecken flieht; welche sitzt und über ihr todtes Kind weint; welche den Mörder wüthend fortstößt, indeß das Kind sich an sie fest klammert: sind göttliche Gestalten. Es ist ein unendlicher Reiz von Leben, Bewe- gung und Schönheit in diesem Stücke, das aus drey großen Tapeten besteht.
Wie
Es iſt wunderbar, wie das Leben aus der groben Materie hervorbricht und die Herzen ergreift; und man wird ſelbſt zum gluͤcklichen ſeeligen Kinde, wann das Volk ſo daran vorbey zieht, da und dort ſtille ſteht, und ſich dieſes und jenes ſchoͤne zeigt, ſich dabey der Religion freut, und fromm und gut nach Hauſe geht.
Vor ſeinem Kindermorde muß jeder andre Kuͤnſtler die Seegel ſtreichen. Ich habe man- ches ſchoͤne Weib davor Thraͤnen vergießen ſehen, ſo ruͤhrend iſt die Mutterliebe und die Unſchuld der Kinder auf mancherley Art ausgedruͤckt. Die Mutter, welche mit ausgebreiteten Armen und flatternden Haaren im Schrecken flieht; welche ſitzt und uͤber ihr todtes Kind weint; welche den Moͤrder wuͤthend fortſtoͤßt, indeß das Kind ſich an ſie feſt klammert: ſind goͤttliche Geſtalten. Es iſt ein unendlicher Reiz von Leben, Bewe- gung und Schoͤnheit in dieſem Stuͤcke, das aus drey großen Tapeten beſteht.
Wie
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Es iſt wunderbar, wie das Leben aus der groben
Materie hervorbricht und die Herzen ergreift;
und man wird ſelbſt zum gluͤcklichen ſeeligen
Kinde, wann das Volk ſo daran vorbey zieht,
da und dort ſtille ſteht, und ſich dieſes und jenes
ſchoͤne zeigt, ſich dabey der Religion freut, und
fromm und gut nach Hauſe geht.
Vor ſeinem Kindermorde muß jeder andre
Kuͤnſtler die Seegel ſtreichen. Ich habe man-
ches ſchoͤne Weib davor Thraͤnen vergießen ſehen,
ſo ruͤhrend iſt die Mutterliebe und die Unſchuld
der Kinder auf mancherley Art ausgedruͤckt. Die
Mutter, welche mit ausgebreiteten Armen und
flatternden Haaren im Schrecken flieht; welche
ſitzt und uͤber ihr todtes Kind weint; welche den
Moͤrder wuͤthend fortſtoͤßt, indeß das Kind ſich
an ſie feſt klammert: ſind goͤttliche Geſtalten.
Es iſt ein unendlicher Reiz von Leben, Bewe-
gung und Schoͤnheit in dieſem Stuͤcke, das aus
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 2. Lemgo, 1787, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787/38>, abgerufen am 21.11.2024.
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