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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Streng genommen freylich beginnt jede Untersuchung
ohne Ausnahme mit einer Analysis, indem sie zuerst den
Erkenntnissgrund logisch klar und deutlich macht; und
dann geht sie über zu einer Synthesis, indem sie dem
Princip seine Beziehungen, dem Phänomen seine Bedin-
gungen oder nothwendigen Voraussetzungen nachweis't.
Dieses letztere ist ganz eigentlich Synthesis a priori; weil
die Angabe der nothwendigen Voraussetzungen in dem
Erkenntnissgrunde selbst noch nicht enthalten war. Allein
hier ist nicht der Ort, dergleichen dialektische Betrach-
tungen im Allgemeinen anzustellen; im Verfolg werden
sie an dem Beyspiel unserer Untersuchung selbst soweit
entwickelt werden, als zu unserer jetzigen Absicht nö-
thig ist. --

Es soll nun die Untersuchung über das Ich, als über
denjenigen Erkenntnissgrund, welcher am nächsten und be-
stimmtesten zu psychologischen Realprincipien hinleitet,
den Anfang machen. Daraus werden sich sogleich mathe-
matisch bestimmbare Gesetze des Bewusstseyns ergeben,
und so weit entwickelt werden, dass die Möglichkeit, hier
eine neue Bahn zu brechen, und namentlich ohne die
angenommenen Seelenvermögen in der Psychologie fort-
zukommen, im Allgemeinen erhelle. Diese Untersuchun-
gen zusammengenommen wollen wir (a potiori) den syn-
thetischen Theil unserer Abhandlung nennen. Darauf
wird der analytische Theil folgen, welcher die wichtigsten
der noch übrigen Phänomene des Bewusstseyns auf die
vorhin gewonnene Kenntniss von den Gesetzen des Gei-
stes zurückführt.

Es ist offenbar, dass der synthetische Theil keine
veste Gränze hat, wie weit er in der Wissenschaft, --
vielweniger, wie weit er hier, in unserer Grundlegung,
auszudehnen sey. Die Folgen aus Realprincipien sind
endlos in der Natur der Dinge, unabsehlich in der Wis-
senschaft. Und für den gegenwärtigen Zweck, Andern
die Theilnahme an den begonnenen neuen Untersuchun-
gen möglich zu machen, könnte ziemlich willkührlich ein

I. F

Streng genommen freylich beginnt jede Untersuchung
ohne Ausnahme mit einer Analysis, indem sie zuerst den
Erkenntniſsgrund logisch klar und deutlich macht; und
dann geht sie über zu einer Synthesis, indem sie dem
Princip seine Beziehungen, dem Phänomen seine Bedin-
gungen oder nothwendigen Voraussetzungen nachweis’t.
Dieses letztere ist ganz eigentlich Synthesis a priori; weil
die Angabe der nothwendigen Voraussetzungen in dem
Erkenntniſsgrunde selbst noch nicht enthalten war. Allein
hier ist nicht der Ort, dergleichen dialektische Betrach-
tungen im Allgemeinen anzustellen; im Verfolg werden
sie an dem Beyspiel unserer Untersuchung selbst soweit
entwickelt werden, als zu unserer jetzigen Absicht nö-
thig ist. —

Es soll nun die Untersuchung über das Ich, als über
denjenigen Erkenntniſsgrund, welcher am nächsten und be-
stimmtesten zu psychologischen Realprincipien hinleitet,
den Anfang machen. Daraus werden sich sogleich mathe-
matisch bestimmbare Gesetze des Bewuſstseyns ergeben,
und so weit entwickelt werden, daſs die Möglichkeit, hier
eine neue Bahn zu brechen, und namentlich ohne die
angenommenen Seelenvermögen in der Psychologie fort-
zukommen, im Allgemeinen erhelle. Diese Untersuchun-
gen zusammengenommen wollen wir (a potiori) den syn-
thetischen Theil unserer Abhandlung nennen. Darauf
wird der analytische Theil folgen, welcher die wichtigsten
der noch übrigen Phänomene des Bewuſstseyns auf die
vorhin gewonnene Kenntniſs von den Gesetzen des Gei-
stes zurückführt.

Es ist offenbar, daſs der synthetische Theil keine
veste Gränze hat, wie weit er in der Wissenschaft, —
vielweniger, wie weit er hier, in unserer Grundlegung,
auszudehnen sey. Die Folgen aus Realprincipien sind
endlos in der Natur der Dinge, unabsehlich in der Wis-
senschaft. Und für den gegenwärtigen Zweck, Andern
die Theilnahme an den begonnenen neuen Untersuchun-
gen möglich zu machen, könnte ziemlich willkührlich ein

I. F
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[81/0101] Streng genommen freylich beginnt jede Untersuchung ohne Ausnahme mit einer Analysis, indem sie zuerst den Erkenntniſsgrund logisch klar und deutlich macht; und dann geht sie über zu einer Synthesis, indem sie dem Princip seine Beziehungen, dem Phänomen seine Bedin- gungen oder nothwendigen Voraussetzungen nachweis’t. Dieses letztere ist ganz eigentlich Synthesis a priori; weil die Angabe der nothwendigen Voraussetzungen in dem Erkenntniſsgrunde selbst noch nicht enthalten war. Allein hier ist nicht der Ort, dergleichen dialektische Betrach- tungen im Allgemeinen anzustellen; im Verfolg werden sie an dem Beyspiel unserer Untersuchung selbst soweit entwickelt werden, als zu unserer jetzigen Absicht nö- thig ist. — Es soll nun die Untersuchung über das Ich, als über denjenigen Erkenntniſsgrund, welcher am nächsten und be- stimmtesten zu psychologischen Realprincipien hinleitet, den Anfang machen. Daraus werden sich sogleich mathe- matisch bestimmbare Gesetze des Bewuſstseyns ergeben, und so weit entwickelt werden, daſs die Möglichkeit, hier eine neue Bahn zu brechen, und namentlich ohne die angenommenen Seelenvermögen in der Psychologie fort- zukommen, im Allgemeinen erhelle. Diese Untersuchun- gen zusammengenommen wollen wir (a potiori) den syn- thetischen Theil unserer Abhandlung nennen. Darauf wird der analytische Theil folgen, welcher die wichtigsten der noch übrigen Phänomene des Bewuſstseyns auf die vorhin gewonnene Kenntniſs von den Gesetzen des Gei- stes zurückführt. Es ist offenbar, daſs der synthetische Theil keine veste Gränze hat, wie weit er in der Wissenschaft, — vielweniger, wie weit er hier, in unserer Grundlegung, auszudehnen sey. Die Folgen aus Realprincipien sind endlos in der Natur der Dinge, unabsehlich in der Wis- senschaft. Und für den gegenwärtigen Zweck, Andern die Theilnahme an den begonnenen neuen Untersuchun- gen möglich zu machen, könnte ziemlich willkührlich ein I. F

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/101>, abgerufen am 21.11.2024.