zulänglich beantwortet; nimmt man aber die individuellen Bestimmungen hinweg, so bleibt nichts übrig, als eine leere Stelle, und diese lässt sich schlechterdings nicht auf eine allgemeingültige Weise ausfüllen. Daher fasse man die Frage nun so: wie kommt der Mensch dazu, jene Stelle, die für sich allein leer seyn würde, zu setzen, sie mit individuellen Bestimmungen auszufüllen, sie als die erste in seinem ganzen Vorstellungskreise zu be- trachten, für die alles Andre ein Zweytes, Drittes, kurz, ein Aeusseres ist; und endlich sie als den Punct anzu- sehn, worin Wisser und Gewusstes unmittelbar zusam- menfallen?
Diese Frage zielt, wie es seyn muss, nicht mehr auf ein Reales, sondern lediglich auf ein Formales; und sie fällt nun zurück in das weite Gebiet der Untersuchung über den Ursprung der Formen in unserem gesammten Vorstellen. Eine Untersuchung, die sich ohne Mechanik des Geistes nicht einmal anfangen lässt.
Der formalen Constructionen, in welchen das Ich eine Stelle -- nicht hat, sondern ist: giebt es mancher- ley; verschieden an Einfluss und Werth; mehr oder min- der zahlreich nach dem erreichten Grade der Cultur. Die bekannteste dieser Constructionen, und, wenn man den zeitlichen Ursprung des Ich betrachtet, die wichtigste, ist der sinnliche Raum.
Wenn die Anschauung dahin gelangt, Objecte zu begränzen und zu sondern, so zieht sie auch Linien von diesen Objecten gegen den Mittelpunct hin, worin der Mensch (oder das Thier) sich befindet. Nahe diesem Mittelpuncte sieht der Mensch wenigstens einige Theile seines Leibes; durchläuft ein Object die Linie dahin, so endet die Zeitreihe der Wahrnehmungen mit einer neuen Empfindung (etwa des Stosses oder Schlages); bewegt sich der Mensch, so verändert sich das ganze System seiner Gesichtslinien; begehrt er und handelt, so wird die Vorstellung des Begehrten der Anfangspunct einer Reihe, die mit einer Veränderung in der Anschauung des
zulänglich beantwortet; nimmt man aber die individuellen Bestimmungen hinweg, so bleibt nichts übrig, als eine leere Stelle, und diese läſst sich schlechterdings nicht auf eine allgemeingültige Weise ausfüllen. Daher fasse man die Frage nun so: wie kommt der Mensch dazu, jene Stelle, die für sich allein leer seyn würde, zu setzen, sie mit individuellen Bestimmungen auszufüllen, sie als die erste in seinem ganzen Vorstellungskreise zu be- trachten, für die alles Andre ein Zweytes, Drittes, kurz, ein Aeuſseres ist; und endlich sie als den Punct anzu- sehn, worin Wisser und Gewuſstes unmittelbar zusam- menfallen?
Diese Frage zielt, wie es seyn muſs, nicht mehr auf ein Reales, sondern lediglich auf ein Formales; und sie fällt nun zurück in das weite Gebiet der Untersuchung über den Ursprung der Formen in unserem gesammten Vorstellen. Eine Untersuchung, die sich ohne Mechanik des Geistes nicht einmal anfangen läſst.
Der formalen Constructionen, in welchen das Ich eine Stelle — nicht hat, sondern ist: giebt es mancher- ley; verschieden an Einfluſs und Werth; mehr oder min- der zahlreich nach dem erreichten Grade der Cultur. Die bekannteste dieser Constructionen, und, wenn man den zeitlichen Ursprung des Ich betrachtet, die wichtigste, ist der sinnliche Raum.
Wenn die Anschauung dahin gelangt, Objecte zu begränzen und zu sondern, so zieht sie auch Linien von diesen Objecten gegen den Mittelpunct hin, worin der Mensch (oder das Thier) sich befindet. Nahe diesem Mittelpuncte sieht der Mensch wenigstens einige Theile seines Leibes; durchläuft ein Object die Linie dahin, so endet die Zeitreihe der Wahrnehmungen mit einer neuen Empfindung (etwa des Stoſses oder Schlages); bewegt sich der Mensch, so verändert sich das ganze System seiner Gesichtslinien; begehrt er und handelt, so wird die Vorstellung des Begehrten der Anfangspunct einer Reihe, die mit einer Veränderung in der Anschauung des
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0120"n="100"/>
zulänglich beantwortet; nimmt man aber die individuellen<lb/>
Bestimmungen hinweg, so bleibt nichts übrig, als eine<lb/><hirendition="#g">leere Stelle</hi>, und diese läſst sich schlechterdings nicht<lb/>
auf eine allgemeingültige Weise ausfüllen. Daher fasse<lb/>
man die Frage nun so: wie kommt der Mensch dazu,<lb/>
jene Stelle, die für sich allein leer seyn würde, zu setzen,<lb/>
sie mit individuellen Bestimmungen auszufüllen, sie als<lb/>
die <hirendition="#g">erste</hi> in seinem ganzen Vorstellungskreise zu be-<lb/>
trachten, für die alles Andre ein Zweytes, Drittes, kurz,<lb/>
ein Aeuſseres ist; und endlich sie als den Punct anzu-<lb/>
sehn, worin Wisser und Gewuſstes unmittelbar zusam-<lb/>
menfallen?</p><lb/><p>Diese Frage zielt, wie es seyn muſs, nicht mehr auf<lb/>
ein Reales, sondern lediglich auf ein Formales; und sie<lb/>
fällt nun zurück in das weite Gebiet der Untersuchung<lb/>
über den Ursprung der Formen in unserem gesammten<lb/>
Vorstellen. Eine Untersuchung, die sich ohne Mechanik<lb/>
des Geistes nicht einmal anfangen läſst.</p><lb/><p>Der formalen Constructionen, in welchen das Ich<lb/>
eine Stelle — nicht <hirendition="#g">hat</hi>, sondern <hirendition="#g">ist</hi>: giebt es mancher-<lb/>
ley; verschieden an Einfluſs und Werth; mehr oder min-<lb/>
der zahlreich nach dem erreichten Grade der Cultur. Die<lb/>
bekannteste dieser Constructionen, und, wenn man den<lb/>
zeitlichen Ursprung des Ich betrachtet, die wichtigste, ist<lb/>
der sinnliche Raum.</p><lb/><p>Wenn die Anschauung dahin gelangt, Objecte zu<lb/>
begränzen und zu sondern, so zieht sie auch Linien von<lb/>
diesen Objecten gegen den Mittelpunct hin, worin der<lb/>
Mensch (oder das Thier) sich befindet. Nahe diesem<lb/>
Mittelpuncte sieht der Mensch wenigstens einige Theile<lb/>
seines Leibes; durchläuft ein Object die Linie dahin, so<lb/>
endet die Zeitreihe der Wahrnehmungen mit einer neuen<lb/>
Empfindung (etwa des Stoſses oder Schlages); bewegt<lb/>
sich der Mensch, so verändert sich das ganze System<lb/>
seiner Gesichtslinien; begehrt er und handelt, so wird<lb/>
die Vorstellung des Begehrten der Anfangspunct einer<lb/>
Reihe, die mit einer Veränderung in der Anschauung des<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[100/0120]
zulänglich beantwortet; nimmt man aber die individuellen
Bestimmungen hinweg, so bleibt nichts übrig, als eine
leere Stelle, und diese läſst sich schlechterdings nicht
auf eine allgemeingültige Weise ausfüllen. Daher fasse
man die Frage nun so: wie kommt der Mensch dazu,
jene Stelle, die für sich allein leer seyn würde, zu setzen,
sie mit individuellen Bestimmungen auszufüllen, sie als
die erste in seinem ganzen Vorstellungskreise zu be-
trachten, für die alles Andre ein Zweytes, Drittes, kurz,
ein Aeuſseres ist; und endlich sie als den Punct anzu-
sehn, worin Wisser und Gewuſstes unmittelbar zusam-
menfallen?
Diese Frage zielt, wie es seyn muſs, nicht mehr auf
ein Reales, sondern lediglich auf ein Formales; und sie
fällt nun zurück in das weite Gebiet der Untersuchung
über den Ursprung der Formen in unserem gesammten
Vorstellen. Eine Untersuchung, die sich ohne Mechanik
des Geistes nicht einmal anfangen läſst.
Der formalen Constructionen, in welchen das Ich
eine Stelle — nicht hat, sondern ist: giebt es mancher-
ley; verschieden an Einfluſs und Werth; mehr oder min-
der zahlreich nach dem erreichten Grade der Cultur. Die
bekannteste dieser Constructionen, und, wenn man den
zeitlichen Ursprung des Ich betrachtet, die wichtigste, ist
der sinnliche Raum.
Wenn die Anschauung dahin gelangt, Objecte zu
begränzen und zu sondern, so zieht sie auch Linien von
diesen Objecten gegen den Mittelpunct hin, worin der
Mensch (oder das Thier) sich befindet. Nahe diesem
Mittelpuncte sieht der Mensch wenigstens einige Theile
seines Leibes; durchläuft ein Object die Linie dahin, so
endet die Zeitreihe der Wahrnehmungen mit einer neuen
Empfindung (etwa des Stoſses oder Schlages); bewegt
sich der Mensch, so verändert sich das ganze System
seiner Gesichtslinien; begehrt er und handelt, so wird
die Vorstellung des Begehrten der Anfangspunct einer
Reihe, die mit einer Veränderung in der Anschauung des
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/120>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.