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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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ches und wieder Anderes Seyendes für Eins und dasselbe
ausgegeben, -- wie denn dieses durch die Behauptung,
dass ein Veränderliches immerfort ein und dasselbe Ding
bleibe, wirklich geschieht, -- so liegt der Widerspruch,
dass Entgegengesetztes einerley seyn solle, klar am Tage.

Statt diesem Widerspruch abzuhelfen, hat man in
unsern Zeiten den Begriff der Substanz zur Kategorie ge-
stempelt und uns versichert, ein solcher Begriff läge nun
einmal in unserm Verstande.

Der Begriff nämlich von dem beharrlichen Substrat
der wechselnden Erscheinungen. Wobey zuvörderst an-
zumerken, dass das Beharrliche ohne Widerspruch be-
harren, und die Erscheinungen ohne Widerspruch wech-
seln möchten, wofern nur zwischen jenem und diesen gar
keine Gemeinschaft wäre, und die wechselnden, gleich
fliegenden Schatten, die Qualität des Beharrlichen ganz
unangetastet liessen. Wenn aber das Wasser (um ein
altes Platonisches Beyspiel zu brauchen) bald flüssig, bald
vest, bald dampfförmig erscheint *), so meint niemand, die
Flüssigkeit, Vestigkeit, Dampfförmigkeit, ginge das be-
harrliche Substrat des Wassers nichts an: sondern, die
entgegengesetzten Möglichkeiten dieser entgegengesetzten
Erscheinungen legt man zusammen genommen dem Ei-
nen und sich selbst gleichen Beharrlichen, als inwohnende
Eigenschaften, bey; und giebt ihm dadurch denn freylich
eine beharrliche, aber zugleich widersprechende Qualität.
Klagt nun Jemand, dass für das Platonische eteron und
tauton der Sinn unter uns verloren scheine: so hilft man
sich mit der Versicherung, es sey ja nur von Phäno-
menen
die Rede! Und alsdann macht man das Haupt-
geschäfft unseres Verstandes daraus, dergleichen unge-
reimte Phänomene ernstlich, ja gar wissenschaftlich auf-
zustellen und abzuhandeln.

*) Plat. Timaeus pag. 342. Man wolle den Ausruf beherzigen:
outo de touton oudepote ton auton ekaston phantazomenon, poion au-
ton, os on otioun touto kai ouk a[ll]o, pagios diiskhurizomenos, ouk aiskhu-
nei ge tis auton; ouk estin!

ches und wieder Anderes Seyendes für Eins und dasselbe
ausgegeben, — wie denn dieses durch die Behauptung,
daſs ein Veränderliches immerfort ein und dasselbe Ding
bleibe, wirklich geschieht, — so liegt der Widerspruch,
daſs Entgegengesetztes einerley seyn solle, klar am Tage.

Statt diesem Widerspruch abzuhelfen, hat man in
unsern Zeiten den Begriff der Substanz zur Kategorie ge-
stempelt und uns versichert, ein solcher Begriff läge nun
einmal in unserm Verstande.

Der Begriff nämlich von dem beharrlichen Substrat
der wechselnden Erscheinungen. Wobey zuvörderst an-
zumerken, daſs das Beharrliche ohne Widerspruch be-
harren, und die Erscheinungen ohne Widerspruch wech-
seln möchten, wofern nur zwischen jenem und diesen gar
keine Gemeinschaft wäre, und die wechselnden, gleich
fliegenden Schatten, die Qualität des Beharrlichen ganz
unangetastet lieſsen. Wenn aber das Wasser (um ein
altes Platonisches Beyspiel zu brauchen) bald flüssig, bald
vest, bald dampfförmig erscheint *), so meint niemand, die
Flüssigkeit, Vestigkeit, Dampfförmigkeit, ginge das be-
harrliche Substrat des Wassers nichts an: sondern, die
entgegengesetzten Möglichkeiten dieser entgegengesetzten
Erscheinungen legt man zusammen genommen dem Ei-
nen und sich selbst gleichen Beharrlichen, als inwohnende
Eigenschaften, bey; und giebt ihm dadurch denn freylich
eine beharrliche, aber zugleich widersprechende Qualität.
Klagt nun Jemand, daſs für das Platonische ἑτερον und
ταυτον der Sinn unter uns verloren scheine: so hilft man
sich mit der Versicherung, es sey ja nur von Phäno-
menen
die Rede! Und alsdann macht man das Haupt-
geschäfft unseres Verstandes daraus, dergleichen unge-
reimte Phänomene ernstlich, ja gar wissenschaftlich auf-
zustellen und abzuhandeln.

*) Plat. Timaeus pag. 342. Man wolle den Ausruf beherzigen:
ὁυτω δη τȣτων ȣδεποτε των αυτων ἑκαϛων φανταζομενων, ποιον αυ-
των, ὡς ον ὁτιȣν τȣτο και ȣκ α[λλ]ο, παγιως διισχυριζομενος, ȣκ αισχυ-
νει γε τις ἁυτον; ȣκ εϛιν!
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[121/0141] ches und wieder Anderes Seyendes für Eins und dasselbe ausgegeben, — wie denn dieses durch die Behauptung, daſs ein Veränderliches immerfort ein und dasselbe Ding bleibe, wirklich geschieht, — so liegt der Widerspruch, daſs Entgegengesetztes einerley seyn solle, klar am Tage. Statt diesem Widerspruch abzuhelfen, hat man in unsern Zeiten den Begriff der Substanz zur Kategorie ge- stempelt und uns versichert, ein solcher Begriff läge nun einmal in unserm Verstande. Der Begriff nämlich von dem beharrlichen Substrat der wechselnden Erscheinungen. Wobey zuvörderst an- zumerken, daſs das Beharrliche ohne Widerspruch be- harren, und die Erscheinungen ohne Widerspruch wech- seln möchten, wofern nur zwischen jenem und diesen gar keine Gemeinschaft wäre, und die wechselnden, gleich fliegenden Schatten, die Qualität des Beharrlichen ganz unangetastet lieſsen. Wenn aber das Wasser (um ein altes Platonisches Beyspiel zu brauchen) bald flüssig, bald vest, bald dampfförmig erscheint *), so meint niemand, die Flüssigkeit, Vestigkeit, Dampfförmigkeit, ginge das be- harrliche Substrat des Wassers nichts an: sondern, die entgegengesetzten Möglichkeiten dieser entgegengesetzten Erscheinungen legt man zusammen genommen dem Ei- nen und sich selbst gleichen Beharrlichen, als inwohnende Eigenschaften, bey; und giebt ihm dadurch denn freylich eine beharrliche, aber zugleich widersprechende Qualität. Klagt nun Jemand, daſs für das Platonische ἑτερον und ταυτον der Sinn unter uns verloren scheine: so hilft man sich mit der Versicherung, es sey ja nur von Phäno- menen die Rede! Und alsdann macht man das Haupt- geschäfft unseres Verstandes daraus, dergleichen unge- reimte Phänomene ernstlich, ja gar wissenschaftlich auf- zustellen und abzuhandeln. *) Plat. Timaeus pag. 342. Man wolle den Ausruf beherzigen: ὁυτω δη τȣτων ȣδεποτε των αυτων ἑκαϛων φανταζομενων, ποιον αυ- των, ὡς ον ὁτιȣν τȣτο και ȣκ αλλο, παγιως διισχυριζομενος, ȣκ αισχυ- νει γε τις ἁυτον; ȣκ εϛιν!

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/141>, abgerufen am 21.11.2024.