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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Verlegenheit setzen musste. Ich will aus Baumgartens
Metaphysik ein paar Paragraphen hierher setzen.

§. 40. Complexus essentialium in possibili est essentia,
(esse rei, ratio formalis, natura, quidditas, forma, for-
male totius, ousia, tinotis, substantia, conceptus entis primus.)

Hier zeigen schon die vielen Synonymen, wie viel Mühe
man sich gegeben hat, den complexus, die Einigung des
Vielen, aufzufassen.

§. 196. Id in substantia, cui inhaerere possunt acci-
dentia, sive substantia, quatenus est subiectum; id, cui acci-
dentia inhaerere possunt, substantiale vocatur; nec acci-
dentia existunt extra substantiale
.

Welche monströse Erfindung! So möchte man hier
ausrufen. -- Wie? Braucht denn die Substanz noch
ein substantiale, damit Accidenzen in ihr wohnen können?
Heisst sie nicht gerade in dieser Beziehung Substanz, in
wiefern sie Accidenzen trägt? Muss und kann und darf
denn zwischen sie selbst, und ihre Accidenzen -- die ja
eben die ihrigen sind, -- noch ein Mittelglied, das
substantiale, eingeschoben werden? Was ist denn damit
gewonnen? Wollen wir nicht noch einen neuen Kitt er-
finden, vermöge dessen das substantiale mit der Substanz
zusammen hänge? Und abermals einen andern Kitt, um
die Accidenzen in das substantiale hinein zu leimen?
Wird denn dieser Kitt nicht nochmals an die Glieder,
die er verknüpfen soll, angeheftet werden müssen? Wird
man nicht auf diese Weise die Mittelglieder ins Unend-
liche vervielfältigen müssen?

Oder was ist das für ein quatenus, in dem Ausdrucke:
substantia, quatenus est subiectum? Soll die Substanz sich
selbst entgegengesetzt werden? Will man sie auffassen,
einmal in so fern, als sie ein Subject für Prädicate ist,
ein andermal in so fern, in wie ferne sie nicht Subject für
ihre Prädicate ist? Darf sie denn jemals anders gedacht
werden, als eben in so fern, in wie ferne sie ihre essentia-
lia
, ihre attributa, in sich vereinigt?

Hier habe ich die Sprache einer Verwunderung an-

Verlegenheit setzen muſste. Ich will aus Baumgartens
Metaphysik ein paar Paragraphen hierher setzen.

§. 40. Complexus essentialium in possibili est essentia,
(esse rei, ratio formalis, natura, quidditas, forma, for-
male totius, ουσια, τινοτις, substantia, conceptus entis primus.)

Hier zeigen schon die vielen Synonymen, wie viel Mühe
man sich gegeben hat, den complexus, die Einigung des
Vielen, aufzufassen.

§. 196. Id in substantia, cui inhaerere possunt acci-
dentia, sive substantia, quatenus est subiectum; id, cui acci-
dentia inhaerere possunt, substantiale vocatur; nec acci-
dentia existunt extra substantiale
.

Welche monströse Erfindung! So möchte man hier
ausrufen. — Wie? Braucht denn die Substanz noch
ein substantiale, damit Accidenzen in ihr wohnen können?
Heiſst sie nicht gerade in dieser Beziehung Substanz, in
wiefern sie Accidenzen trägt? Muſs und kann und darf
denn zwischen sie selbst, und ihre Accidenzen — die ja
eben die ihrigen sind, — noch ein Mittelglied, das
substantiale, eingeschoben werden? Was ist denn damit
gewonnen? Wollen wir nicht noch einen neuen Kitt er-
finden, vermöge dessen das substantiale mit der Substanz
zusammen hänge? Und abermals einen andern Kitt, um
die Accidenzen in das substantiale hinein zu leimen?
Wird denn dieser Kitt nicht nochmals an die Glieder,
die er verknüpfen soll, angeheftet werden müssen? Wird
man nicht auf diese Weise die Mittelglieder ins Unend-
liche vervielfältigen müssen?

Oder was ist das für ein quatenus, in dem Ausdrucke:
substantia, quatenus est subiectum? Soll die Substanz sich
selbst entgegengesetzt werden? Will man sie auffassen,
einmal in so fern, als sie ein Subject für Prädicate ist,
ein andermal in so fern, in wie ferne sie nicht Subject für
ihre Prädicate ist? Darf sie denn jemals anders gedacht
werden, als eben in so fern, in wie ferne sie ihre essentia-
lia
, ihre attributa, in sich vereinigt?

Hier habe ich die Sprache einer Verwunderung an-

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[125/0145] Verlegenheit setzen muſste. Ich will aus Baumgartens Metaphysik ein paar Paragraphen hierher setzen. §. 40. Complexus essentialium in possibili est essentia, (esse rei, ratio formalis, natura, quidditas, forma, for- male totius, ουσια, τινοτις, substantia, conceptus entis primus.) Hier zeigen schon die vielen Synonymen, wie viel Mühe man sich gegeben hat, den complexus, die Einigung des Vielen, aufzufassen. §. 196. Id in substantia, cui inhaerere possunt acci- dentia, sive substantia, quatenus est subiectum; id, cui acci- dentia inhaerere possunt, substantiale vocatur; nec acci- dentia existunt extra substantiale. Welche monströse Erfindung! So möchte man hier ausrufen. — Wie? Braucht denn die Substanz noch ein substantiale, damit Accidenzen in ihr wohnen können? Heiſst sie nicht gerade in dieser Beziehung Substanz, in wiefern sie Accidenzen trägt? Muſs und kann und darf denn zwischen sie selbst, und ihre Accidenzen — die ja eben die ihrigen sind, — noch ein Mittelglied, das substantiale, eingeschoben werden? Was ist denn damit gewonnen? Wollen wir nicht noch einen neuen Kitt er- finden, vermöge dessen das substantiale mit der Substanz zusammen hänge? Und abermals einen andern Kitt, um die Accidenzen in das substantiale hinein zu leimen? Wird denn dieser Kitt nicht nochmals an die Glieder, die er verknüpfen soll, angeheftet werden müssen? Wird man nicht auf diese Weise die Mittelglieder ins Unend- liche vervielfältigen müssen? Oder was ist das für ein quatenus, in dem Ausdrucke: substantia, quatenus est subiectum? Soll die Substanz sich selbst entgegengesetzt werden? Will man sie auffassen, einmal in so fern, als sie ein Subject für Prädicate ist, ein andermal in so fern, in wie ferne sie nicht Subject für ihre Prädicate ist? Darf sie denn jemals anders gedacht werden, als eben in so fern, in wie ferne sie ihre essentia- lia, ihre attributa, in sich vereinigt? Hier habe ich die Sprache einer Verwunderung an-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/145>, abgerufen am 21.11.2024.