Vorstellungen widerstreben vielmehr eine der andern. Die Hemmungssumme ist nichts von ihnen Verschiedenes; sie ist keine, ihnen gleichsam von aussen her aufgelegte Last, an der sie gemeinschaftlich zu tragen hätten; son- dern sie ist nur der Ausdruck von dem Quantum des Widerstreits, der sich unter ihnen erhebt, und unter ih- nen bleibt, so fern sie im Bewusstseyn zusammentreffen. Was daher eine Vorstellung durch ihre Spannung ge- winnt, das kann nicht Verminderung des ursprünglichen, in der Beschaffenheit der Vorstellungen gegründeten Wi- derstreits seyn (sonst müssten sie ihre Natur ändern), sondern jede Vorstellung gewinnt, so viel sie vermag, über die andern Vorstellungen, die sie um gerade so viel hemmt, als um wie viel sie die Verdunkelung ihres eig- nen Objects im Bewusstseyn abhält. Und weit entfernt, dass die Hemmungssumme in der Spannung eine Gegen- kraft finden sollte, ist sie vielmehr gerade der Ausdruck dieser Spannung selbst, die mit dem Widerstreite iden- tisch ist, so fern derselbe als Summe des activen Strei- tens der einzelnen Vorstellungen betrachtet wird. Tiefer unten wird sich Gelegenheit finden, dieses sowohl, als die entgegenstehende unrichtige Ansicht in mathemati- schen Formeln auszusprechen; da sich denn zeigen wird, dass ganz verschiedene Gesetze des allmähligen Sinkens der Hemmunsgsumme daraus hervorgehn.
Endlich wolle man nicht fragen, ob wir uns denn solcher Spannung unsrer Vorstellungen auch bewusst seyen? Nach unsrer ganzen vorstehenden Entwickelung sind die Vorstellungen in so fern kein wirkliches Vor- stellen, als sie sich in ein blosses Streben vorzustellen verwandelt haben, -- das heisst mit andern Worten, als sie in Spannung versetzt sind. Unmöglich also kann man diese Spannung im Bewusstseyn unmittelbar antref- fen; oder es müsste ein Bewusstseyn dessen geben, was kein Vorstellen, sondern gerade die Abwesenheit dessel- ben ist. -- Unsre Bestrebungen, Begierden u. s. w., de- ren wir uns wirklich bewusst sind, dürfen demnach nicht
Vorstellungen widerstreben vielmehr eine der andern. Die Hemmungssumme ist nichts von ihnen Verschiedenes; sie ist keine, ihnen gleichsam von auſsen her aufgelegte Last, an der sie gemeinschaftlich zu tragen hätten; son- dern sie ist nur der Ausdruck von dem Quantum des Widerstreits, der sich unter ihnen erhebt, und unter ih- nen bleibt, so fern sie im Bewuſstseyn zusammentreffen. Was daher eine Vorstellung durch ihre Spannung ge- winnt, das kann nicht Verminderung des ursprünglichen, in der Beschaffenheit der Vorstellungen gegründeten Wi- derstreits seyn (sonst müſsten sie ihre Natur ändern), sondern jede Vorstellung gewinnt, so viel sie vermag, über die andern Vorstellungen, die sie um gerade so viel hemmt, als um wie viel sie die Verdunkelung ihres eig- nen Objects im Bewuſstseyn abhält. Und weit entfernt, daſs die Hemmungssumme in der Spannung eine Gegen- kraft finden sollte, ist sie vielmehr gerade der Ausdruck dieser Spannung selbst, die mit dem Widerstreite iden- tisch ist, so fern derselbe als Summe des activen Strei- tens der einzelnen Vorstellungen betrachtet wird. Tiefer unten wird sich Gelegenheit finden, dieses sowohl, als die entgegenstehende unrichtige Ansicht in mathemati- schen Formeln auszusprechen; da sich denn zeigen wird, daſs ganz verschiedene Gesetze des allmähligen Sinkens der Hemmunsgsumme daraus hervorgehn.
Endlich wolle man nicht fragen, ob wir uns denn solcher Spannung unsrer Vorstellungen auch bewuſst seyen? Nach unsrer ganzen vorstehenden Entwickelung sind die Vorstellungen in so fern kein wirkliches Vor- stellen, als sie sich in ein bloſses Streben vorzustellen verwandelt haben, — das heiſst mit andern Worten, als sie in Spannung versetzt sind. Unmöglich also kann man diese Spannung im Bewuſstseyn unmittelbar antref- fen; oder es müſste ein Bewuſstseyn dessen geben, was kein Vorstellen, sondern gerade die Abwesenheit dessel- ben ist. — Unsre Bestrebungen, Begierden u. s. w., de- ren wir uns wirklich bewuſst sind, dürfen demnach nicht
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0184"n="164"/>
Vorstellungen widerstreben vielmehr <hirendition="#g">eine der andern</hi>.<lb/>
Die Hemmungssumme ist nichts von ihnen Verschiedenes;<lb/>
sie ist keine, ihnen gleichsam von auſsen her aufgelegte<lb/>
Last, an der sie gemeinschaftlich zu tragen hätten; son-<lb/>
dern sie ist nur der Ausdruck von dem Quantum des<lb/>
Widerstreits, der sich unter ihnen erhebt, und unter ih-<lb/>
nen bleibt, so fern sie im Bewuſstseyn zusammentreffen.<lb/>
Was daher eine Vorstellung durch ihre Spannung ge-<lb/>
winnt, das kann nicht Verminderung des ursprünglichen,<lb/>
in der Beschaffenheit der Vorstellungen gegründeten Wi-<lb/>
derstreits seyn (sonst müſsten sie ihre Natur ändern),<lb/>
sondern jede Vorstellung gewinnt, so viel sie vermag,<lb/>
über die andern Vorstellungen, die sie um gerade so viel<lb/>
hemmt, als um wie viel sie die Verdunkelung ihres eig-<lb/>
nen Objects im Bewuſstseyn abhält. Und weit entfernt,<lb/>
daſs die Hemmungssumme in der Spannung eine Gegen-<lb/>
kraft finden sollte, ist sie vielmehr gerade der Ausdruck<lb/>
dieser Spannung selbst, die mit dem Widerstreite iden-<lb/>
tisch ist, so fern derselbe als Summe des activen Strei-<lb/>
tens der einzelnen Vorstellungen betrachtet wird. Tiefer<lb/>
unten wird sich Gelegenheit finden, dieses sowohl, als<lb/>
die entgegenstehende unrichtige Ansicht in mathemati-<lb/>
schen Formeln auszusprechen; da sich denn zeigen wird,<lb/>
daſs ganz verschiedene Gesetze des allmähligen Sinkens<lb/>
der Hemmunsgsumme daraus hervorgehn.</p><lb/><p>Endlich wolle man nicht fragen, ob wir uns denn<lb/>
solcher Spannung unsrer Vorstellungen auch bewuſst<lb/>
seyen? Nach unsrer ganzen vorstehenden Entwickelung<lb/>
sind die Vorstellungen in so fern <hirendition="#g">kein</hi> wirkliches Vor-<lb/>
stellen, als sie sich in ein bloſses <hirendition="#g">Streben</hi> vorzustellen<lb/>
verwandelt haben, — das heiſst mit andern Worten, als<lb/>
sie in Spannung versetzt sind. Unmöglich also kann<lb/>
man diese Spannung im Bewuſstseyn unmittelbar antref-<lb/>
fen; oder es müſste ein Bewuſstseyn dessen geben, was<lb/>
kein Vorstellen, sondern gerade die Abwesenheit dessel-<lb/>
ben ist. — Unsre Bestrebungen, Begierden u. s. w., de-<lb/>
ren wir uns wirklich bewuſst sind, dürfen demnach nicht<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[164/0184]
Vorstellungen widerstreben vielmehr eine der andern.
Die Hemmungssumme ist nichts von ihnen Verschiedenes;
sie ist keine, ihnen gleichsam von auſsen her aufgelegte
Last, an der sie gemeinschaftlich zu tragen hätten; son-
dern sie ist nur der Ausdruck von dem Quantum des
Widerstreits, der sich unter ihnen erhebt, und unter ih-
nen bleibt, so fern sie im Bewuſstseyn zusammentreffen.
Was daher eine Vorstellung durch ihre Spannung ge-
winnt, das kann nicht Verminderung des ursprünglichen,
in der Beschaffenheit der Vorstellungen gegründeten Wi-
derstreits seyn (sonst müſsten sie ihre Natur ändern),
sondern jede Vorstellung gewinnt, so viel sie vermag,
über die andern Vorstellungen, die sie um gerade so viel
hemmt, als um wie viel sie die Verdunkelung ihres eig-
nen Objects im Bewuſstseyn abhält. Und weit entfernt,
daſs die Hemmungssumme in der Spannung eine Gegen-
kraft finden sollte, ist sie vielmehr gerade der Ausdruck
dieser Spannung selbst, die mit dem Widerstreite iden-
tisch ist, so fern derselbe als Summe des activen Strei-
tens der einzelnen Vorstellungen betrachtet wird. Tiefer
unten wird sich Gelegenheit finden, dieses sowohl, als
die entgegenstehende unrichtige Ansicht in mathemati-
schen Formeln auszusprechen; da sich denn zeigen wird,
daſs ganz verschiedene Gesetze des allmähligen Sinkens
der Hemmunsgsumme daraus hervorgehn.
Endlich wolle man nicht fragen, ob wir uns denn
solcher Spannung unsrer Vorstellungen auch bewuſst
seyen? Nach unsrer ganzen vorstehenden Entwickelung
sind die Vorstellungen in so fern kein wirkliches Vor-
stellen, als sie sich in ein bloſses Streben vorzustellen
verwandelt haben, — das heiſst mit andern Worten, als
sie in Spannung versetzt sind. Unmöglich also kann
man diese Spannung im Bewuſstseyn unmittelbar antref-
fen; oder es müſste ein Bewuſstseyn dessen geben, was
kein Vorstellen, sondern gerade die Abwesenheit dessel-
ben ist. — Unsre Bestrebungen, Begierden u. s. w., de-
ren wir uns wirklich bewuſst sind, dürfen demnach nicht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/184>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.