chen eine besondere, ihr entsprechende Möglichkeit an- nehmen, diese Möglichkeiten aber in eben so viele Ver- mögen übersetzen; wobey die logischen, zur vorläufigen Uebersicht der Phänomene brauchbaren Eintheilungen, wider alles Recht, für Erkenntnisse realer Vielheit und Verschiedenheit ausgegeben werden; und wodurch statt des ächten Systems, der, unter sich nothwendig zusam- menhängenden psychologischen Gesetze ein blosses Ag- gregat von Seelenvermögen herauskommt, ohne Spur ei- ner Antwort auf die Frage: warum doch gerade solche, und so viele Vermögen in uns beysammen, und warum sie in dieser, und keiner andern Gemeinschaft begriffen seyn mögen? -- Die sogenannte empirische Psychologie, welche aus solcher Behandlung des Gegenstandes ent- steht, ist bekannt genug, es wird auch noch jetzt hie und da daran gekünstelt, obgleich das Interesse dafür sich grossentheils verloren hat. Hier aber entsteht ein Kreislauf von Uebeln. Unrichtiges Verfahren giebt schlech- ten Erfolg; das Mislingen bricht den Muth und hemmt den Fleiss; je nachlässiger nun gearbeitet wird, desto we- niger bessert sich das Verfahren; und der Irrthum, des- sen man längst müde geworden, fährt gleichwohl fort zu täuschen. --
Nach den vorstehenden Erklärungen werden Manche dies Buch für immer bey Seite legen; möchten nun die Wenigen, welche noch nicht abgeschreckt sind, sich zu- erst der längst anerkannten, höchsten Wichtigkeit einer ächten Wissenschaft von Uns selbst, von unserem Geiste und Gemüthe, erinnern! Einer Wissenschaft, die wir im Grunde immer, als ob wir sie schon besässen, im Stillen voraussetzen, wo wir von uns etwas fordern, oder für uns etwas wünschen, wo wir mit unsern Kräften et- was unternehmen, oder daran zweifelnd etwas aufgeben, wo wir im Wissen oder im Handeln oder im Geniessen vorwärts streben oder rückwärts gleiten. Uns selbst schauen und denken wir in Alles hinein, darum weil wir mit unsern Augen sehen, und mit unserm Geiste den-
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chen eine besondere, ihr entsprechende Möglichkeit an- nehmen, diese Möglichkeiten aber in eben so viele Ver- mögen übersetzen; wobey die logischen, zur vorläufigen Uebersicht der Phänomene brauchbaren Eintheilungen, wider alles Recht, für Erkenntnisse realer Vielheit und Verschiedenheit ausgegeben werden; und wodurch statt des ächten Systems, der, unter sich nothwendig zusam- menhängenden psychologischen Gesetze ein bloſses Ag- gregat von Seelenvermögen herauskommt, ohne Spur ei- ner Antwort auf die Frage: warum doch gerade solche, und so viele Vermögen in uns beysammen, und warum sie in dieser, und keiner andern Gemeinschaft begriffen seyn mögen? — Die sogenannte empirische Psychologie, welche aus solcher Behandlung des Gegenstandes ent- steht, ist bekannt genug, es wird auch noch jetzt hie und da daran gekünstelt, obgleich das Interesse dafür sich groſsentheils verloren hat. Hier aber entsteht ein Kreislauf von Uebeln. Unrichtiges Verfahren giebt schlech- ten Erfolg; das Mislingen bricht den Muth und hemmt den Fleiſs; je nachlässiger nun gearbeitet wird, desto we- niger bessert sich das Verfahren; und der Irrthum, des- sen man längst müde geworden, fährt gleichwohl fort zu täuschen. —
Nach den vorstehenden Erklärungen werden Manche dies Buch für immer bey Seite legen; möchten nun die Wenigen, welche noch nicht abgeschreckt sind, sich zu- erst der längst anerkannten, höchsten Wichtigkeit einer ächten Wissenschaft von Uns selbst, von unserem Geiste und Gemüthe, erinnern! Einer Wissenschaft, die wir im Grunde immer, als ob wir sie schon besäſsen, im Stillen voraussetzen, wo wir von uns etwas fordern, oder für uns etwas wünschen, wo wir mit unsern Kräften et- was unternehmen, oder daran zweifelnd etwas aufgeben, wo wir im Wissen oder im Handeln oder im Genieſsen vorwärts streben oder rückwärts gleiten. Uns selbst schauen und denken wir in Alles hinein, darum weil wir mit unsern Augen sehen, und mit unserm Geiste den-
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chen eine besondere, ihr entsprechende Möglichkeit an-
nehmen, diese Möglichkeiten aber in eben so viele Ver-
mögen übersetzen; wobey die logischen, zur vorläufigen
Uebersicht der Phänomene brauchbaren Eintheilungen,
wider alles Recht, für Erkenntnisse realer Vielheit und
Verschiedenheit ausgegeben werden; und wodurch statt
des ächten Systems, der, unter sich nothwendig zusam-
menhängenden psychologischen Gesetze ein bloſses Ag-
gregat von Seelenvermögen herauskommt, ohne Spur ei-
ner Antwort auf die Frage: warum doch gerade solche,
und so viele Vermögen in uns beysammen, und warum
sie in dieser, und keiner andern Gemeinschaft begriffen
seyn mögen? — Die sogenannte empirische Psychologie,
welche aus solcher Behandlung des Gegenstandes ent-
steht, ist bekannt genug, es wird auch noch jetzt hie
und da daran gekünstelt, obgleich das Interesse dafür
sich groſsentheils verloren hat. Hier aber entsteht ein
Kreislauf von Uebeln. Unrichtiges Verfahren giebt schlech-
ten Erfolg; das Mislingen bricht den Muth und hemmt
den Fleiſs; je nachlässiger nun gearbeitet wird, desto we-
niger bessert sich das Verfahren; und der Irrthum, des-
sen man längst müde geworden, fährt gleichwohl fort zu
täuschen. —
Nach den vorstehenden Erklärungen werden Manche
dies Buch für immer bey Seite legen; möchten nun die
Wenigen, welche noch nicht abgeschreckt sind, sich zu-
erst der längst anerkannten, höchsten Wichtigkeit einer
ächten Wissenschaft von Uns selbst, von unserem Geiste
und Gemüthe, erinnern! Einer Wissenschaft, die wir
im Grunde immer, als ob wir sie schon besäſsen, im
Stillen voraussetzen, wo wir von uns etwas fordern, oder
für uns etwas wünschen, wo wir mit unsern Kräften et-
was unternehmen, oder daran zweifelnd etwas aufgeben,
wo wir im Wissen oder im Handeln oder im Genieſsen
vorwärts streben oder rückwärts gleiten. Uns selbst
schauen und denken wir in Alles hinein, darum weil wir
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/23>, abgerufen am 21.11.2024.
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