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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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gen? -- Die innere Erfahrung, so fern sie sich hierüber
befragen lässt, antwortet: dass allerdings jeder Wechsel un-
serer Gemüthslagen Zeit verbrauche. Aber auch a priori
ist dasselbe mit grosser Bestimmtheit zu erkennen. Zwi-
schen dem ungehemmten und dem gehörig gehemmten
Zustande liegt ein Continuum von Mittelzuständen; durch
jeden derselben würde selbst ein unendlich schneller Ue-
bergang, wenn ein solcher statt fände, successiv herdurch
gehn müssen. Aber bey jedem dieser Mittelzustände ist
die Nothwendigkeit des ferneren Sinkens geringer, als
bey dem vorhergehenden einer, noch weiter vom Ziele
entfernten, Hemmung. Folglich werden die Vorstellun-
gen weniger gedrängt, um aus dem Bewusstseyn zu ent-
weichen. Demnach muss das Sinken der Hemmungs-
summe mit abnehmender Geschwindigkeit von Statten
gehn, und damit die Geschwindigkeit abnehmen könne,
muss Zeit verfliessen. -- Dieses nun mag sich Jeder auf
beliebige Weise in seine metaphysische Sprache über-
setzen. Der Idealist, und schon der Kantianer, mag im-
merhin vorläufig sagen, es sey hier nur von Phänomenen
die Rede; und zu dem Sinken der Vorstellungen gehöre
Zeit in demselben Sinne, als worin die Bewegung der
Körper Zeit und Raum verbrauche. Es ist hier nicht der
Ort, in der Lehre von Raum und Zeit Falsches und
Wahres zu scheiden; oder den, höchst dürftigen, Gegen-
satz zwischen Phänomenen und Noumenen näher zu be-
leuchten.

In jedem beliebigen Augenblicke ist die Nothwendig-
keit des Sinkens der Hemmungssumme so gross, als das
noch ungehemmte Quantum derselben. Was wirklich
sinkt in diesem Augenblicke, ist zugleich dem Augen-
blicke und dieser Nothwendigkeit proportional. Es sey S
die Hemmungssumme, s das Gehemmte nach Verlauf
der Zeit t, so ist
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Kaum wird es nöthig seyn, zu erinnern, dass man
sich nicht durch die Analogie mit der Mechanik der Kör-

gen? — Die innere Erfahrung, so fern sie sich hierüber
befragen läſst, antwortet: daſs allerdings jeder Wechsel un-
serer Gemüthslagen Zeit verbrauche. Aber auch a priori
ist dasselbe mit groſser Bestimmtheit zu erkennen. Zwi-
schen dem ungehemmten und dem gehörig gehemmten
Zustande liegt ein Continuum von Mittelzuständen; durch
jeden derselben würde selbst ein unendlich schneller Ue-
bergang, wenn ein solcher statt fände, successiv herdurch
gehn müssen. Aber bey jedem dieser Mittelzustände ist
die Nothwendigkeit des ferneren Sinkens geringer, als
bey dem vorhergehenden einer, noch weiter vom Ziele
entfernten, Hemmung. Folglich werden die Vorstellun-
gen weniger gedrängt, um aus dem Bewuſstseyn zu ent-
weichen. Demnach muſs das Sinken der Hemmungs-
summe mit abnehmender Geschwindigkeit von Statten
gehn, und damit die Geschwindigkeit abnehmen könne,
muſs Zeit verflieſsen. — Dieses nun mag sich Jeder auf
beliebige Weise in seine metaphysische Sprache über-
setzen. Der Idealist, und schon der Kantianer, mag im-
merhin vorläufig sagen, es sey hier nur von Phänomenen
die Rede; und zu dem Sinken der Vorstellungen gehöre
Zeit in demselben Sinne, als worin die Bewegung der
Körper Zeit und Raum verbrauche. Es ist hier nicht der
Ort, in der Lehre von Raum und Zeit Falsches und
Wahres zu scheiden; oder den, höchst dürftigen, Gegen-
satz zwischen Phänomenen und Noumenen näher zu be-
leuchten.

In jedem beliebigen Augenblicke ist die Nothwendig-
keit des Sinkens der Hemmungssumme so groſs, als das
noch ungehemmte Quantum derselben. Was wirklich
sinkt in diesem Augenblicke, ist zugleich dem Augen-
blicke und dieser Nothwendigkeit proportional. Es sey S
die Hemmungssumme, σ das Gehemmte nach Verlauf
der Zeit t, so ist
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[245/0265] gen? — Die innere Erfahrung, so fern sie sich hierüber befragen läſst, antwortet: daſs allerdings jeder Wechsel un- serer Gemüthslagen Zeit verbrauche. Aber auch a priori ist dasselbe mit groſser Bestimmtheit zu erkennen. Zwi- schen dem ungehemmten und dem gehörig gehemmten Zustande liegt ein Continuum von Mittelzuständen; durch jeden derselben würde selbst ein unendlich schneller Ue- bergang, wenn ein solcher statt fände, successiv herdurch gehn müssen. Aber bey jedem dieser Mittelzustände ist die Nothwendigkeit des ferneren Sinkens geringer, als bey dem vorhergehenden einer, noch weiter vom Ziele entfernten, Hemmung. Folglich werden die Vorstellun- gen weniger gedrängt, um aus dem Bewuſstseyn zu ent- weichen. Demnach muſs das Sinken der Hemmungs- summe mit abnehmender Geschwindigkeit von Statten gehn, und damit die Geschwindigkeit abnehmen könne, muſs Zeit verflieſsen. — Dieses nun mag sich Jeder auf beliebige Weise in seine metaphysische Sprache über- setzen. Der Idealist, und schon der Kantianer, mag im- merhin vorläufig sagen, es sey hier nur von Phänomenen die Rede; und zu dem Sinken der Vorstellungen gehöre Zeit in demselben Sinne, als worin die Bewegung der Körper Zeit und Raum verbrauche. Es ist hier nicht der Ort, in der Lehre von Raum und Zeit Falsches und Wahres zu scheiden; oder den, höchst dürftigen, Gegen- satz zwischen Phänomenen und Noumenen näher zu be- leuchten. In jedem beliebigen Augenblicke ist die Nothwendig- keit des Sinkens der Hemmungssumme so groſs, als das noch ungehemmte Quantum derselben. Was wirklich sinkt in diesem Augenblicke, ist zugleich dem Augen- blicke und dieser Nothwendigkeit proportional. Es sey S die Hemmungssumme, σ das Gehemmte nach Verlauf der Zeit t, so ist (S—σ)dt=dσ Kaum wird es nöthig seyn, zu erinnern, daſs man sich nicht durch die Analogie mit der Mechanik der Kör-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/265>, abgerufen am 24.11.2024.