Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

sen auf inniger Verbindung ihrer Glieder beruhen; sonst
ruft nicht eine Vorstellung die andere so lebhaft auf, dass
dadurch eine starke Zurückstossung könnte veranlasst wer-
den. Aber auch deshalb kann die letztere unmerklich
werden, weil ihr nicht Zeit gelassen wird. Uebereilung
ist das Gegentheil des Scharfsinns, auch bei sonst leb-
haften Naturen. Verweilung bei jedem einzelnen Puncte
ist die psychologische Bedingung des genauen Denkens;
sonst lassen sich Verwechselungen, sammt allen ihren
Täuschungen, nicht vermeiden; die Vorstellungen wölben
sich wohl, aber zum Zuspitzen gelangen sie nicht, das
heisst, die Gedanken kommen nicht zur Reife.

§. 101.

Da es an diesem Orte bloss noch darauf ankommt,
die Verbindung zwischen dem synthetischen und dem
analytischen Theile der Psychologie zu vermitteln: so
werde ich auch einige andre, an sich höchst wichtige
Gegenstände, hier nur so betrachten, wie sie sich als
Folgen aus dem bisher Vorgetragenen gleichsam aus der
Ferne zeigen lassen.

Ursprünglich fällt jede Vorstellung, indem sie ent-
steht, in mehr als Eine Reihe. Sie verknüpft sich zum
Theil mit denen, die sie eben im Bewusstseyn vorfindet;
theils mit gleichzeitig gegebenen; theils mit denjenigen,
deren Reproduction sie, erst unmittelbar, dann mittelbar,
veranlasst. Geht man den reproducirten weiter nach, so
sind diese ehemals auf ähnliche Weise, seltener oder
öfter, Verbindungen mit anderen eingegangen. Daher
finden sich in der dritten von jenen drey Arten der Ver-
knüpfung mancherley nähere Bestimmungen, die nur all-
mählig entwickelt werden können. Vermöge der ersten
Art bekommt die Vorstellung eine Stelle in der Zeit;
vermöge der zweyten einen Ort im Raume; vermöge der
dritten einen Platz im Reiche der Begriffe.

Bey jeder neuen Reproduction strebt die Vorstellung,
alles Verbundene theils simultan, theils successiv (§. 100.)
ins Bewusstseyn zu bringen; hierin wird sie theils begün-

stigt,

sen auf inniger Verbindung ihrer Glieder beruhen; sonst
ruft nicht eine Vorstellung die andere so lebhaft auf, daſs
dadurch eine starke Zurückstoſsung könnte veranlaſst wer-
den. Aber auch deshalb kann die letztere unmerklich
werden, weil ihr nicht Zeit gelassen wird. Uebereilung
ist das Gegentheil des Scharfsinns, auch bei sonst leb-
haften Naturen. Verweilung bei jedem einzelnen Puncte
ist die psychologische Bedingung des genauen Denkens;
sonst lassen sich Verwechselungen, sammt allen ihren
Täuschungen, nicht vermeiden; die Vorstellungen wölben
sich wohl, aber zum Zuspitzen gelangen sie nicht, das
heiſst, die Gedanken kommen nicht zur Reife.

§. 101.

Da es an diesem Orte bloſs noch darauf ankommt,
die Verbindung zwischen dem synthetischen und dem
analytischen Theile der Psychologie zu vermitteln: so
werde ich auch einige andre, an sich höchst wichtige
Gegenstände, hier nur so betrachten, wie sie sich als
Folgen aus dem bisher Vorgetragenen gleichsam aus der
Ferne zeigen lassen.

Ursprünglich fällt jede Vorstellung, indem sie ent-
steht, in mehr als Eine Reihe. Sie verknüpft sich zum
Theil mit denen, die sie eben im Bewuſstseyn vorfindet;
theils mit gleichzeitig gegebenen; theils mit denjenigen,
deren Reproduction sie, erst unmittelbar, dann mittelbar,
veranlaſst. Geht man den reproducirten weiter nach, so
sind diese ehemals auf ähnliche Weise, seltener oder
öfter, Verbindungen mit anderen eingegangen. Daher
finden sich in der dritten von jenen drey Arten der Ver-
knüpfung mancherley nähere Bestimmungen, die nur all-
mählig entwickelt werden können. Vermöge der ersten
Art bekommt die Vorstellung eine Stelle in der Zeit;
vermöge der zweyten einen Ort im Raume; vermöge der
dritten einen Platz im Reiche der Begriffe.

Bey jeder neuen Reproduction strebt die Vorstellung,
alles Verbundene theils simultan, theils successiv (§. 100.)
ins Bewuſstseyn zu bringen; hierin wird sie theils begün-

stigt,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0388" n="368"/>
sen auf inniger Verbindung ihrer Glieder beruhen; sonst<lb/>
ruft nicht eine Vorstellung die andere so lebhaft auf, da&#x017F;s<lb/>
dadurch eine starke Zurücksto&#x017F;sung könnte veranla&#x017F;st wer-<lb/>
den. Aber auch deshalb kann die letztere unmerklich<lb/>
werden, weil ihr nicht Zeit gelassen wird. Uebereilung<lb/>
ist das Gegentheil des Scharfsinns, auch bei sonst leb-<lb/>
haften Naturen. Verweilung bei jedem einzelnen Puncte<lb/>
ist die psychologische Bedingung des genauen Denkens;<lb/>
sonst lassen sich Verwechselungen, sammt allen ihren<lb/>
Täuschungen, nicht vermeiden; die Vorstellungen wölben<lb/>
sich wohl, aber zum Zuspitzen gelangen sie nicht, das<lb/>
hei&#x017F;st, die Gedanken kommen nicht zur Reife.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 101.</head><lb/>
              <p>Da es an diesem Orte blo&#x017F;s noch darauf ankommt,<lb/>
die Verbindung zwischen dem synthetischen und dem<lb/>
analytischen Theile der Psychologie zu vermitteln: so<lb/>
werde ich auch einige andre, an sich höchst wichtige<lb/>
Gegenstände, hier nur so betrachten, wie sie sich als<lb/>
Folgen aus dem bisher Vorgetragenen gleichsam aus der<lb/>
Ferne zeigen lassen.</p><lb/>
              <p>Ursprünglich fällt jede Vorstellung, indem sie ent-<lb/>
steht, in mehr als Eine Reihe. Sie verknüpft sich zum<lb/>
Theil mit denen, die sie eben im Bewu&#x017F;stseyn vorfindet;<lb/>
theils mit gleichzeitig gegebenen; theils mit denjenigen,<lb/>
deren Reproduction sie, erst unmittelbar, dann mittelbar,<lb/>
veranla&#x017F;st. Geht man den reproducirten weiter nach, so<lb/>
sind diese ehemals auf ähnliche Weise, seltener oder<lb/>
öfter, Verbindungen mit anderen eingegangen. Daher<lb/>
finden sich in der dritten von jenen drey Arten der Ver-<lb/>
knüpfung mancherley nähere Bestimmungen, die nur all-<lb/>
mählig entwickelt werden können. Vermöge der ersten<lb/>
Art bekommt die Vorstellung eine Stelle in der Zeit;<lb/>
vermöge der zweyten einen Ort im Raume; vermöge der<lb/>
dritten einen Platz im Reiche der Begriffe.</p><lb/>
              <p>Bey jeder neuen Reproduction strebt die Vorstellung,<lb/>
alles Verbundene theils simultan, theils successiv (§. 100.)<lb/>
ins Bewu&#x017F;stseyn zu bringen; hierin wird sie theils begün-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">stigt,</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[368/0388] sen auf inniger Verbindung ihrer Glieder beruhen; sonst ruft nicht eine Vorstellung die andere so lebhaft auf, daſs dadurch eine starke Zurückstoſsung könnte veranlaſst wer- den. Aber auch deshalb kann die letztere unmerklich werden, weil ihr nicht Zeit gelassen wird. Uebereilung ist das Gegentheil des Scharfsinns, auch bei sonst leb- haften Naturen. Verweilung bei jedem einzelnen Puncte ist die psychologische Bedingung des genauen Denkens; sonst lassen sich Verwechselungen, sammt allen ihren Täuschungen, nicht vermeiden; die Vorstellungen wölben sich wohl, aber zum Zuspitzen gelangen sie nicht, das heiſst, die Gedanken kommen nicht zur Reife. §. 101. Da es an diesem Orte bloſs noch darauf ankommt, die Verbindung zwischen dem synthetischen und dem analytischen Theile der Psychologie zu vermitteln: so werde ich auch einige andre, an sich höchst wichtige Gegenstände, hier nur so betrachten, wie sie sich als Folgen aus dem bisher Vorgetragenen gleichsam aus der Ferne zeigen lassen. Ursprünglich fällt jede Vorstellung, indem sie ent- steht, in mehr als Eine Reihe. Sie verknüpft sich zum Theil mit denen, die sie eben im Bewuſstseyn vorfindet; theils mit gleichzeitig gegebenen; theils mit denjenigen, deren Reproduction sie, erst unmittelbar, dann mittelbar, veranlaſst. Geht man den reproducirten weiter nach, so sind diese ehemals auf ähnliche Weise, seltener oder öfter, Verbindungen mit anderen eingegangen. Daher finden sich in der dritten von jenen drey Arten der Ver- knüpfung mancherley nähere Bestimmungen, die nur all- mählig entwickelt werden können. Vermöge der ersten Art bekommt die Vorstellung eine Stelle in der Zeit; vermöge der zweyten einen Ort im Raume; vermöge der dritten einen Platz im Reiche der Begriffe. Bey jeder neuen Reproduction strebt die Vorstellung, alles Verbundene theils simultan, theils successiv (§. 100.) ins Bewuſstseyn zu bringen; hierin wird sie theils begün- stigt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/388
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/388>, abgerufen am 22.11.2024.