nicht verstanden werde, so dass hieraus sich die ursprüng- liche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes Verstand ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück- kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor- stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.
Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A aus- gehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander nicht dergestalt hemmen, dass ihr ferneres Ablaufen da- durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf A und B zurück, und die Complication muss unterbleiben. Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte ihres Zusammenstossens würde aufgehalten, so würde die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden, und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen hervorträte und sie zerstörte. Dass diese Art der vor- läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche des Traums ausmacht, lässt sich leicht übersehen; das- selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, dass hier das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran- ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden; so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs- reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver- bindung allmählig verscheucht wird.
Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so- gleich, dass jedes gesprochene Wort für den Hörer ein Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in ein- ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden werden. Alles, was diesen Process der Verwebung hin- dert, macht die Rede unverständlich.
Aber die Sprache liegt nicht bloss in den Worten, sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt; und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in-
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nicht verstanden werde, so daſs hieraus sich die ursprüng- liche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes Verstand ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück- kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor- stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.
Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A aus- gehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander nicht dergestalt hemmen, daſs ihr ferneres Ablaufen da- durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf A und B zurück, und die Complication muſs unterbleiben. Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte ihres Zusammenstoſsens würde aufgehalten, so würde die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden, und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen hervorträte und sie zerstörte. Daſs diese Art der vor- läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche des Traums ausmacht, läſst sich leicht übersehen; das- selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, daſs hier das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran- ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden; so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs- reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver- bindung allmählig verscheucht wird.
Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so- gleich, daſs jedes gesprochene Wort für den Hörer ein Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in ein- ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden werden. Alles, was diesen Proceſs der Verwebung hin- dert, macht die Rede unverständlich.
Aber die Sprache liegt nicht bloſs in den Worten, sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt; und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in-
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nicht verstanden werde, so daſs hieraus sich die ursprüng-
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Verstand ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück-
kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor-
stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.
Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B
sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande
kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A aus-
gehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander
nicht dergestalt hemmen, daſs ihr ferneres Ablaufen da-
durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf
A und B zurück, und die Complication muſs unterbleiben.
Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte
ihres Zusammenstoſsens würde aufgehalten, so würde
die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden,
und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen
hervorträte und sie zerstörte. Daſs diese Art der vor-
läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche
des Traums ausmacht, läſst sich leicht übersehen; das-
selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, daſs hier
das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran-
ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens
bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden;
so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs-
reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch
zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver-
bindung allmählig verscheucht wird.
Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so-
gleich, daſs jedes gesprochene Wort für den Hörer ein
Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in ein-
ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden
werden. Alles, was diesen Proceſs der Verwebung hin-
dert, macht die Rede unverständlich.
Aber die Sprache liegt nicht bloſs in den Worten,
sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth
das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt;
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/391>, abgerufen am 21.11.2024.
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