an welchem so Viele scheitern, geblendet; er lehrt sehr richtig: indifferentia, quam experior, cum nulla me ratio in unam partem magis quam in alteram impellit, est infi- mus gradus libertatis; et nullam in ea perfectionem, sed tantummodo in cognitione defectum testatur; nam si semper, quid verum et bonum sit, clare viderem, nunquam de eo quod esset iudicandum vel eligendum, deliberarem*). Aber sehr nachtheilig mussten ihm solche Irrthümer wer- den, wie die Anknüpfung des Seyn an die Zeit, und die Meinung, dass die Zeittheile von einander unabhängig wä- ren; daher denn aus unserm Daseyn in einem Augen- blicke noch nicht das Daseyn im nächsten Augenblicke folgen soll **). Wichtiger noch sind die Fehler in sei- ner Lehre von der Substanz; er lässt eine Mehrheit von Attributen zu; lässt die Substanzen afficirt und verändert werden; glaubt deren Natur zu erkennen, indem Ausdeh- nung das Wesen des Körpers, Denken das des Geistes ausmache; nimmt gleichwohl eigentlich nur eine wahre Substanz an, nämlich Gott, welcher allein zu seinem Da- seyn keines andern Gegenstandes bedürfe ***): -- kurz, man erblickt hier den ganzen Spinozismus im Keime. Mögen alle Anhänger des Spinoza sorgfältig den Des- Cartes studiren; sie werden ihn dann weniger anstaunen; -- so wie die Gegner desselben eine Lehre in milderem Lichte erblicken werden, die nichts als ein natürlicher Auswuchs aus Des-Cartes Irrthümern ist. Doch die- ser Gegenstand kann hier nicht ausgeführt werden; ich gehe über zu dem berühmten Widersacher des Des- Cartes im Puncte der angebornen Ideen; zu Locken, dem eine länger dauernde Wirksamkeit beschieden war.
Locke nannte sein Werk einen Versuch über das Denkvermögen+). Jemand, der von unsern
*)Meditatio quarta.
**)Princ. philos. I, 21.
***)Ibid. 51--56.
+) Er sagt im zweyten Buch, c. VI. §. 2[.] the power of thinking
an welchem so Viele scheitern, geblendet; er lehrt sehr richtig: indifferentia, quam experior, cum nulla me ratio in unam partem magis quam in alteram impellit, est infi- mus gradus libertatis; et nullam in ea perfectionem, sed tantummodo in cognitione defectum testatur; nam si semper, quid verum et bonum sit, clare viderem, nunquam de eo quod esset iudicandum vel eligendum, deliberarem*). Aber sehr nachtheilig muſsten ihm solche Irrthümer wer- den, wie die Anknüpfung des Seyn an die Zeit, und die Meinung, daſs die Zeittheile von einander unabhängig wä- ren; daher denn aus unserm Daseyn in einem Augen- blicke noch nicht das Daseyn im nächsten Augenblicke folgen soll **). Wichtiger noch sind die Fehler in sei- ner Lehre von der Substanz; er läſst eine Mehrheit von Attributen zu; läſst die Substanzen afficirt und verändert werden; glaubt deren Natur zu erkennen, indem Ausdeh- nung das Wesen des Körpers, Denken das des Geistes ausmache; nimmt gleichwohl eigentlich nur eine wahre Substanz an, nämlich Gott, welcher allein zu seinem Da- seyn keines andern Gegenstandes bedürfe ***): — kurz, man erblickt hier den ganzen Spinozismus im Keime. Mögen alle Anhänger des Spinoza sorgfältig den Des- Cartes studiren; sie werden ihn dann weniger anstaunen; — so wie die Gegner desselben eine Lehre in milderem Lichte erblicken werden, die nichts als ein natürlicher Auswuchs aus Des-Cartes Irrthümern ist. Doch die- ser Gegenstand kann hier nicht ausgeführt werden; ich gehe über zu dem berühmten Widersacher des Des- Cartes im Puncte der angebornen Ideen; zu Locken, dem eine länger dauernde Wirksamkeit beschieden war.
Locke nannte sein Werk einen Versuch über das Denkvermögen†). Jemand, der von unsern
*)Meditatio quarta.
**)Princ. philos. I, 21.
***)Ibid. 51—56.
†) Er sagt im zweyten Buch, c. VI. §. 2[.] the power of thinking
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mus gradus libertatis; et nullam in ea perfectionem, sed
tantummodo in cognitione defectum testatur; nam si semper,
quid verum et bonum sit, clare viderem, nunquam de eo
quod esset iudicandum vel eligendum, deliberarem *).
Aber sehr nachtheilig muſsten ihm solche Irrthümer wer-
den, wie die Anknüpfung des Seyn an die Zeit, und die
Meinung, daſs die Zeittheile von einander unabhängig wä-
ren; daher denn aus unserm Daseyn in einem Augen-
blicke noch nicht das Daseyn im nächsten Augenblicke
folgen soll **). Wichtiger noch sind die Fehler in sei-
ner Lehre von der Substanz; er läſst eine Mehrheit von
Attributen zu; läſst die Substanzen afficirt und verändert
werden; glaubt deren Natur zu erkennen, indem Ausdeh-
nung das Wesen des Körpers, Denken das des Geistes
ausmache; nimmt gleichwohl eigentlich nur eine wahre
Substanz an, nämlich Gott, welcher allein zu seinem Da-
seyn keines andern Gegenstandes bedürfe ***): — kurz,
man erblickt hier den ganzen Spinozismus im Keime.
Mögen alle Anhänger des Spinoza sorgfältig den Des-
Cartes studiren; sie werden ihn dann weniger anstaunen;
— so wie die Gegner desselben eine Lehre in milderem
Lichte erblicken werden, die nichts als ein natürlicher
Auswuchs aus Des-Cartes Irrthümern ist. Doch die-
ser Gegenstand kann hier nicht ausgeführt werden; ich
gehe über zu dem berühmten Widersacher des Des-
Cartes im Puncte der angebornen Ideen; zu Locken,
dem eine länger dauernde Wirksamkeit beschieden war.
Locke nannte sein Werk einen Versuch über
das Denkvermögen †). Jemand, der von unsern
*) Meditatio quarta.
**) Princ. philos. I, 21.
***) Ibid. 51—56.
†) Er sagt im zweyten Buch, c. VI. §. 2. the power of thinking
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/66>, abgerufen am 21.11.2024.
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