scheinen. Das Wort Spiel drückt nur die Abwesenheit des ernsten, vestgestellten, nothwendigen Zwecks aus. Aber die ästhetische Natur, selbst des Spiels, liegt nicht in dieser Negation, sondern sie ist rein positiv, und be- steht eben so gut mit dem tiefsten, strengsten, heiligsten Ernste, als mit derjenigen Entfernung von Sorgen, wor- auf der Künstler bey seinem Zuhörer rechnet. Diese Beseitigung der Angelegenheiten und Pflichten des täg- lichen Lebens dient nur, um Platz zu gewinnen für den neuen Ernst, den die, keinesweges immer scherzende und schmeichelnde, Kunst, an die Stelle setzen will. Alle Künste weihen sich der Religion; und wenn sie nun in ihrer Zusammenwirkung den Menschen wirklich über das Irdische emporgetragen haben, wollen wir dann sa- gen, sie haben gespielt?
6) Im §. 71. und 72. war die Rede von der Ver- schmelzung vor der Hemmung. Es wurde gezeigt, dass dieselbe von einer ganz eigenthümlichen Art des Strebens der Vorstellungen abhänge, wobey ihre Stärke ganz und gar nicht, sondern bloss ihr Hemmungsgrad in Betracht kommt. Das Gegentheil desselben ist der Grad der Gleichartigkeit; und man wird sich erin- nern, dass Vorstellungen, in so fern sie als gleichartig zu betrachten sind, in ein völlig ungetheiltes Eins zusam- menfliessen müssen; dass eben deshalb solche Paare von Vorstellungen, die sich, eine mit der andern verglichen, in Gleichartiges und Entgegengesetztes zerlegen lassen, in Hinsicht des Gleichartigen zusammenfliessen sollten, welches sie jedoch nicht können, weil sich das Gleichar- tige vom Entgegengesetzten nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in Begriffen -- durch zufällige Ansich- ten -- trennen lässt *). Hieraus entsteht ein innerer Streit zwischen der Kraft, die zur Verschmelzung treibt,
*) Man hat Ursache, sich hiebey an die Metaphysik zu erinnern; aber man hüte sich vor Verwechselungen! Vorstellungen sind nicht einfache Wesen; und vice versa.
scheinen. Das Wort Spiel drückt nur die Abwesenheit des ernsten, vestgestellten, nothwendigen Zwecks aus. Aber die ästhetische Natur, selbst des Spiels, liegt nicht in dieser Negation, sondern sie ist rein positiv, und be- steht eben so gut mit dem tiefsten, strengsten, heiligsten Ernste, als mit derjenigen Entfernung von Sorgen, wor- auf der Künstler bey seinem Zuhörer rechnet. Diese Beseitigung der Angelegenheiten und Pflichten des täg- lichen Lebens dient nur, um Platz zu gewinnen für den neuen Ernst, den die, keinesweges immer scherzende und schmeichelnde, Kunst, an die Stelle setzen will. Alle Künste weihen sich der Religion; und wenn sie nun in ihrer Zusammenwirkung den Menschen wirklich über das Irdische emporgetragen haben, wollen wir dann sa- gen, sie haben gespielt?
6) Im §. 71. und 72. war die Rede von der Ver- schmelzung vor der Hemmung. Es wurde gezeigt, daſs dieselbe von einer ganz eigenthümlichen Art des Strebens der Vorstellungen abhänge, wobey ihre Stärke ganz und gar nicht, sondern bloſs ihr Hemmungsgrad in Betracht kommt. Das Gegentheil desselben ist der Grad der Gleichartigkeit; und man wird sich erin- nern, daſs Vorstellungen, in so fern sie als gleichartig zu betrachten sind, in ein völlig ungetheiltes Eins zusam- menflieſsen müssen; daſs eben deshalb solche Paare von Vorstellungen, die sich, eine mit der andern verglichen, in Gleichartiges und Entgegengesetztes zerlegen lassen, in Hinsicht des Gleichartigen zusammenflieſsen sollten, welches sie jedoch nicht können, weil sich das Gleichar- tige vom Entgegengesetzten nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in Begriffen — durch zufällige Ansich- ten — trennen läſst *). Hieraus entsteht ein innerer Streit zwischen der Kraft, die zur Verschmelzung treibt,
*) Man hat Ursache, sich hiebey an die Metaphysik zu erinnern; aber man hüte sich vor Verwechselungen! Vorstellungen sind nicht einfache Wesen; und vice versa.
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scheinen. Das Wort Spiel drückt nur die Abwesenheit
des ernsten, vestgestellten, nothwendigen Zwecks aus.
Aber die ästhetische Natur, selbst des Spiels, liegt nicht
in dieser Negation, sondern sie ist rein positiv, und be-
steht eben so gut mit dem tiefsten, strengsten, heiligsten
Ernste, als mit derjenigen Entfernung von Sorgen, wor-
auf der Künstler bey seinem Zuhörer rechnet. Diese
Beseitigung der Angelegenheiten und Pflichten des täg-
lichen Lebens dient nur, um Platz zu gewinnen für den
neuen Ernst, den die, keinesweges immer scherzende
und schmeichelnde, Kunst, an die Stelle setzen will.
Alle Künste weihen sich der Religion; und wenn sie nun
in ihrer Zusammenwirkung den Menschen wirklich über
das Irdische emporgetragen haben, wollen wir dann sa-
gen, sie haben gespielt?
6) Im §. 71. und 72. war die Rede von der Ver-
schmelzung vor der Hemmung. Es wurde gezeigt,
daſs dieselbe von einer ganz eigenthümlichen Art des
Strebens der Vorstellungen abhänge, wobey ihre Stärke
ganz und gar nicht, sondern bloſs ihr Hemmungsgrad
in Betracht kommt. Das Gegentheil desselben ist der
Grad der Gleichartigkeit; und man wird sich erin-
nern, daſs Vorstellungen, in so fern sie als gleichartig
zu betrachten sind, in ein völlig ungetheiltes Eins zusam-
menflieſsen müssen; daſs eben deshalb solche Paare von
Vorstellungen, die sich, eine mit der andern verglichen, in
Gleichartiges und Entgegengesetztes zerlegen lassen, in
Hinsicht des Gleichartigen zusammenflieſsen sollten,
welches sie jedoch nicht können, weil sich das Gleichar-
tige vom Entgegengesetzten nicht in der Wirklichkeit,
sondern nur in Begriffen — durch zufällige Ansich-
ten — trennen läſst *). Hieraus entsteht ein innerer
Streit zwischen der Kraft, die zur Verschmelzung treibt,
*) Man hat Ursache, sich hiebey an die Metaphysik zu erinnern;
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/124>, abgerufen am 24.11.2024.
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