selbe Vermögen unterdrücken, welches sie doch auch zu ihrem Dienste gebrauchen; als ob die Metapher, der Verstand sey ein Sklave der Leidenschaften geworden, ein exacter philosophischer Begriff wäre, und als ob man dem Verstande, gleich dem Sklaven, einen Willen und einen zweyten Verstand beylegen könnte, vermöge deren er sich in die Sklaverey, in die er unglücklicher- weise gerathen, nun auch zu schicken wisse!
Um den Begriff einer Leidenschaft gehörig fassen zu können, bedarf es keines Vermögens, wogegen die Leidenschaft sich stemme, und eben so wenig eines an- dern Vermögens, woraus sie selbst hervorgehe; denn ihre Gewalt ist offenbar und geradezu die Ge- walt der herrschenden Vorstellung*)selbst, die sich gegen eine stets erneuerte Hemmung auf- arbeitet. Wohl aber bedarf es der Voraussetzung ei- ner richtigen Verbindung und eines richtigen Verhältnis- ses der verschiedenen Vorstellungen unter einander, wel- ches vorhanden seyn sollte, so dass im Gegensatze mit demselben die Leidenschaft aus einer übermä- ssig starken und übel verbundenen Vorstellung oder Vorstellungsmasse entspringe.
Leidenschaften sind demnach nicht selbst Begierden (Acte des Begehrens,) sondern Dis positionen zu Be- gierden, welche in der ganzen Verwebung der Vorstellungen ihren Sitz haben. Und aus diesem Grunde lässt sich begreifen, dass es nicht bloss einzelne Leidenschaften, sondern leidenschaftliche Naturen giebt, ja dass überhaupt der Zustand der Roh- heit in der Regel mit allgemeiner Leidenschaft- lichkeit behaftet ist. Denn je mehr die Vorstellun- gen vereinzelt geblieben, je weniger sorgfältig und regel-
*) Es versteht sich von selbst, dass hier nicht von einer einfa- chen Vorstellung, sondern von der ganzen Masse und Verbindung ein- facher Vorstellungen die Rede ist, die den Gegenstand der Leiden- schaft betreffen.
selbe Vermögen unterdrücken, welches sie doch auch zu ihrem Dienste gebrauchen; als ob die Metapher, der Verstand sey ein Sklave der Leidenschaften geworden, ein exacter philosophischer Begriff wäre, und als ob man dem Verstande, gleich dem Sklaven, einen Willen und einen zweyten Verstand beylegen könnte, vermöge deren er sich in die Sklaverey, in die er unglücklicher- weise gerathen, nun auch zu schicken wisse!
Um den Begriff einer Leidenschaft gehörig fassen zu können, bedarf es keines Vermögens, wogegen die Leidenschaft sich stemme, und eben so wenig eines an- dern Vermögens, woraus sie selbst hervorgehe; denn ihre Gewalt ist offenbar und geradezu die Ge- walt der herrschenden Vorstellung*)selbst, die sich gegen eine stets erneuerte Hemmung auf- arbeitet. Wohl aber bedarf es der Voraussetzung ei- ner richtigen Verbindung und eines richtigen Verhältnis- ses der verschiedenen Vorstellungen unter einander, wel- ches vorhanden seyn sollte, so daſs im Gegensatze mit demselben die Leidenschaft aus einer übermä- ſsig starken und übel verbundenen Vorstellung oder Vorstellungsmasse entspringe.
Leidenschaften sind demnach nicht selbst Begierden (Acte des Begehrens,) sondern Dis positionen zu Be- gierden, welche in der ganzen Verwebung der Vorstellungen ihren Sitz haben. Und aus diesem Grunde läſst sich begreifen, daſs es nicht bloſs einzelne Leidenschaften, sondern leidenschaftliche Naturen giebt, ja daſs überhaupt der Zustand der Roh- heit in der Regel mit allgemeiner Leidenschaft- lichkeit behaftet ist. Denn je mehr die Vorstellun- gen vereinzelt geblieben, je weniger sorgfältig und regel-
*) Es versteht sich von selbst, daſs hier nicht von einer einfa- chen Vorstellung, sondern von der ganzen Masse und Verbindung ein- facher Vorstellungen die Rede ist, die den Gegenstand der Leiden- schaft betreffen.
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selbe Vermögen unterdrücken, welches sie doch auch zu
ihrem Dienste gebrauchen; als ob die Metapher, der
Verstand sey ein Sklave der Leidenschaften geworden,
ein exacter philosophischer Begriff wäre, und als ob
man dem Verstande, gleich dem Sklaven, einen Willen
und einen zweyten Verstand beylegen könnte, vermöge
deren er sich in die Sklaverey, in die er unglücklicher-
weise gerathen, nun auch zu schicken wisse!
Um den Begriff einer Leidenschaft gehörig fassen
zu können, bedarf es keines Vermögens, wogegen die
Leidenschaft sich stemme, und eben so wenig eines an-
dern Vermögens, woraus sie selbst hervorgehe; denn
ihre Gewalt ist offenbar und geradezu die Ge-
walt der herrschenden Vorstellung *) selbst, die
sich gegen eine stets erneuerte Hemmung auf-
arbeitet. Wohl aber bedarf es der Voraussetzung ei-
ner richtigen Verbindung und eines richtigen Verhältnis-
ses der verschiedenen Vorstellungen unter einander, wel-
ches vorhanden seyn sollte, so daſs im Gegensatze
mit demselben die Leidenschaft aus einer übermä-
ſsig starken und übel verbundenen Vorstellung oder
Vorstellungsmasse entspringe.
Leidenschaften sind demnach nicht selbst Begierden
(Acte des Begehrens,) sondern Dis positionen zu Be-
gierden, welche in der ganzen Verwebung der
Vorstellungen ihren Sitz haben. Und aus diesem
Grunde läſst sich begreifen, daſs es nicht bloſs einzelne
Leidenschaften, sondern leidenschaftliche Naturen
giebt, ja daſs überhaupt der Zustand der Roh-
heit in der Regel mit allgemeiner Leidenschaft-
lichkeit behaftet ist. Denn je mehr die Vorstellun-
gen vereinzelt geblieben, je weniger sorgfältig und regel-
*) Es versteht sich von selbst, daſs hier nicht von einer einfa-
chen Vorstellung, sondern von der ganzen Masse und Verbindung ein-
facher Vorstellungen die Rede ist, die den Gegenstand der Leiden-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/142>, abgerufen am 24.11.2024.
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