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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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selben wird gehemmt, aber eben dadurch gespannt, und
dasselbe begegnet der Verschmelzungshülfe. Zugleich
nimmt die Empfänglichkeit für die Auffassung der überall
gleichfarbigen Linie ab. Abgesehen nun von andern, etwa
störenden Umständen, kommt ein Augenblick, wo die Vor-
stellung des Punctes mächtiger vordringt, als dass die fort-
gehende neue Auffassung sie zurückhalten könnte; dann
sucht das Auge den Punct; es kehrt zurück, und fasst ihn
mit der durchlaufenen Strecke der Linie zusammen.

Fünftens: das eben beschriebene wird mannigfaltiger
und verwickelter, wenn mehrere Puncte der Linie gegen-
über stehn; wenn mehrere Linien neben einander sicht-
bar sind; wenn diese Linien zusammenhängen, oder in
allerley Richtungen einander kreuzen. Es wird nicht
bloss mannigfaltiger, sondern auch bequemer, wenn die
Linien gekrümmt sind, so dass sie das an ihnen fortlau-
fende Auge von selbst auf die gesuchten Puncte zurück-
führen; wie z. B. die Kreislinie, die das Auge niemals
weiter vom Mittelpunckte entfernt. Hieraus kann man
beurtheilen, was geschehn müsse, wenn in einem Kreise
ein Punct sichtbar ist, aber nicht in der Mitte; oder
wenn der Kreis unrichtig gezeichnet ist. So etwas ist
hässlich; und wir sind also hier an der Pforte der
ästhetischen Urtheile über das Räumliche.

Ueberhaupt aber ist kein Zweifel, dass es müsse
a priori bestimmt und berechnet werden können, welche
Bewegungen, welches Umherlaufen des Blickes, einer
jeden Gestalt zukomme, unter der Voraussetzung, dass
das Auge sich der Gestalt hingebe, und keinem fremden
Antriebe folge. Eben so gehört zu jeder Gestalt ein end-
licher Ruhepunct für das Auge, dem es im Umherlaufen
sich wenigstens annähern soll. Wäre jenes und dieses
bekannt, so würde man dem ungeübten Auge seine Wege
vorzeichnen, es würde einen Unterricht im Sehen geben
können. Wäre die Pädagogik weiter ausgebildet, als sie
ist, so müsste man hierauf in Rücksicht der Anschauungs-
übungen aufmerksam machen.

selben wird gehemmt, aber eben dadurch gespannt, und
dasselbe begegnet der Verschmelzungshülfe. Zugleich
nimmt die Empfänglichkeit für die Auffassung der überall
gleichfarbigen Linie ab. Abgesehen nun von andern, etwa
störenden Umständen, kommt ein Augenblick, wo die Vor-
stellung des Punctes mächtiger vordringt, als daſs die fort-
gehende neue Auffassung sie zurückhalten könnte; dann
sucht das Auge den Punct; es kehrt zurück, und faſst ihn
mit der durchlaufenen Strecke der Linie zusammen.

Fünftens: das eben beschriebene wird mannigfaltiger
und verwickelter, wenn mehrere Puncte der Linie gegen-
über stehn; wenn mehrere Linien neben einander sicht-
bar sind; wenn diese Linien zusammenhängen, oder in
allerley Richtungen einander kreuzen. Es wird nicht
bloſs mannigfaltiger, sondern auch bequemer, wenn die
Linien gekrümmt sind, so daſs sie das an ihnen fortlau-
fende Auge von selbst auf die gesuchten Puncte zurück-
führen; wie z. B. die Kreislinie, die das Auge niemals
weiter vom Mittelpunckte entfernt. Hieraus kann man
beurtheilen, was geschehn müsse, wenn in einem Kreise
ein Punct sichtbar ist, aber nicht in der Mitte; oder
wenn der Kreis unrichtig gezeichnet ist. So etwas ist
häſslich; und wir sind also hier an der Pforte der
ästhetischen Urtheile über das Räumliche.

Ueberhaupt aber ist kein Zweifel, daſs es müsse
a priori bestimmt und berechnet werden können, welche
Bewegungen, welches Umherlaufen des Blickes, einer
jeden Gestalt zukomme, unter der Voraussetzung, daſs
das Auge sich der Gestalt hingebe, und keinem fremden
Antriebe folge. Eben so gehört zu jeder Gestalt ein end-
licher Ruhepunct für das Auge, dem es im Umherlaufen
sich wenigstens annähern soll. Wäre jenes und dieses
bekannt, so würde man dem ungeübten Auge seine Wege
vorzeichnen, es würde einen Unterricht im Sehen geben
können. Wäre die Pädagogik weiter ausgebildet, als sie
ist, so müſste man hierauf in Rücksicht der Anschauungs-
übungen aufmerksam machen.

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[140/0175] selben wird gehemmt, aber eben dadurch gespannt, und dasselbe begegnet der Verschmelzungshülfe. Zugleich nimmt die Empfänglichkeit für die Auffassung der überall gleichfarbigen Linie ab. Abgesehen nun von andern, etwa störenden Umständen, kommt ein Augenblick, wo die Vor- stellung des Punctes mächtiger vordringt, als daſs die fort- gehende neue Auffassung sie zurückhalten könnte; dann sucht das Auge den Punct; es kehrt zurück, und faſst ihn mit der durchlaufenen Strecke der Linie zusammen. Fünftens: das eben beschriebene wird mannigfaltiger und verwickelter, wenn mehrere Puncte der Linie gegen- über stehn; wenn mehrere Linien neben einander sicht- bar sind; wenn diese Linien zusammenhängen, oder in allerley Richtungen einander kreuzen. Es wird nicht bloſs mannigfaltiger, sondern auch bequemer, wenn die Linien gekrümmt sind, so daſs sie das an ihnen fortlau- fende Auge von selbst auf die gesuchten Puncte zurück- führen; wie z. B. die Kreislinie, die das Auge niemals weiter vom Mittelpunckte entfernt. Hieraus kann man beurtheilen, was geschehn müsse, wenn in einem Kreise ein Punct sichtbar ist, aber nicht in der Mitte; oder wenn der Kreis unrichtig gezeichnet ist. So etwas ist häſslich; und wir sind also hier an der Pforte der ästhetischen Urtheile über das Räumliche. Ueberhaupt aber ist kein Zweifel, daſs es müsse a priori bestimmt und berechnet werden können, welche Bewegungen, welches Umherlaufen des Blickes, einer jeden Gestalt zukomme, unter der Voraussetzung, daſs das Auge sich der Gestalt hingebe, und keinem fremden Antriebe folge. Eben so gehört zu jeder Gestalt ein end- licher Ruhepunct für das Auge, dem es im Umherlaufen sich wenigstens annähern soll. Wäre jenes und dieses bekannt, so würde man dem ungeübten Auge seine Wege vorzeichnen, es würde einen Unterricht im Sehen geben können. Wäre die Pädagogik weiter ausgebildet, als sie ist, so müſste man hierauf in Rücksicht der Anschauungs- übungen aufmerksam machen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/175>, abgerufen am 21.11.2024.