der Linie liegt, und den sie selbst in der Mitte durchschnel- det. Dieser Raum gehört nun freylich nicht in die Er- klärung, die man von der Linie gern geben möchte, um bloss die in ihr liegenden Merkmale anzugeben; aber er gehört sehr wesentlich zur psychologischen Beschrei- bung dessen, was im Geiste während des Ziehens der Linie vorgeht; denn die Puncte, zu denen man gelangt, wären nicht Raumpuncte, wenn sie nicht den nisus in sich trügen, nach allen Seiten zu reproduciren. Bewegt sich ein Punct, so nimmt er diesen nisus überall hin mit, wohin er kommt. Soll er sich selbst in diesem nisus nicht stören: so muss die Linie gerade fortgehn, wie so- gleich noch klärer werden wird.
Man ziehe zwey convergirende Linien. Bey der mindesten Convergenz, und indem man nur anfängt, ihr gemäss den Zug zu beginnen, drängen und streiten schon die seitlichen Reproductionen wider einander, denn die Forderung der Convergenz bedeutet gerade so viel, als: man soll im Fortgange das, von beyden Linien her sich begegnende, Zwischen-Schieben (durch die Reproductionsgesetze) nunmehr vermindern; wodurch diesen Gesetzen offenbar Abbruch geschieht. -- In dem Augenblicke, wo die Linien sich schneiden, wird den Reproductionen die grösste Gewalt angethan; nach dem Durchkreuzen hingegen werden sie wiederum in Freyheit gesetzt. Und nun folgt eine andre Art von Anstrengung. Man muss nämlich, um die sich immer weiter entfernen- den Linien doch noch in Gedanken zusammenzuhalten, immer mehr zwischen sie einschieben; das heisst, man muss sie selbst langsamer vorrücken lassen, damit den seitlichen Reproductionen Zeit gelassen werde, einander zu begegnen. Zieht man die Linien zu rasch: so ent- läuft eine der andern.
Man ziehe eine krumme Linie. Man soll also die Richtung, in der man fortgeht, jeden Augenblick än- dern. Beym ersten Beginnen hatte man ohne Zweifel eine Richtung, das heisst, ein gleichmässiges Fortgehen
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der Linie liegt, und den sie selbst in der Mitte durchschnel- det. Dieser Raum gehört nun freylich nicht in die Er- klärung, die man von der Linie gern geben möchte, um bloſs die in ihr liegenden Merkmale anzugeben; aber er gehört sehr wesentlich zur psychologischen Beschrei- bung dessen, was im Geiste während des Ziehens der Linie vorgeht; denn die Puncte, zu denen man gelangt, wären nicht Raumpuncte, wenn sie nicht den nisus in sich trügen, nach allen Seiten zu reproduciren. Bewegt sich ein Punct, so nimmt er diesen nisus überall hin mit, wohin er kommt. Soll er sich selbst in diesem nisus nicht stören: so muſs die Linie gerade fortgehn, wie so- gleich noch klärer werden wird.
Man ziehe zwey convergirende Linien. Bey der mindesten Convergenz, und indem man nur anfängt, ihr gemäſs den Zug zu beginnen, drängen und streiten schon die seitlichen Reproductionen wider einander, denn die Forderung der Convergenz bedeutet gerade so viel, als: man soll im Fortgange das, von beyden Linien her sich begegnende, Zwischen-Schieben (durch die Reproductionsgesetze) nunmehr vermindern; wodurch diesen Gesetzen offenbar Abbruch geschieht. — In dem Augenblicke, wo die Linien sich schneiden, wird den Reproductionen die gröſste Gewalt angethan; nach dem Durchkreuzen hingegen werden sie wiederum in Freyheit gesetzt. Und nun folgt eine andre Art von Anstrengung. Man muſs nämlich, um die sich immer weiter entfernen- den Linien doch noch in Gedanken zusammenzuhalten, immer mehr zwischen sie einschieben; das heiſst, man muſs sie selbst langsamer vorrücken lassen, damit den seitlichen Reproductionen Zeit gelassen werde, einander zu begegnen. Zieht man die Linien zu rasch: so ent- läuft eine der andern.
Man ziehe eine krumme Linie. Man soll also die Richtung, in der man fortgeht, jeden Augenblick än- dern. Beym ersten Beginnen hatte man ohne Zweifel eine Richtung, das heiſst, ein gleichmäſsiges Fortgehen
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der Linie liegt, und den sie selbst in der Mitte durchschnel-
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klärung, die man von der Linie gern geben möchte,
um bloſs die in ihr liegenden Merkmale anzugeben; aber
er gehört sehr wesentlich zur psychologischen Beschrei-
bung dessen, was im Geiste während des Ziehens der
Linie vorgeht; denn die Puncte, zu denen man gelangt,
wären nicht Raumpuncte, wenn sie nicht den nisus in
sich trügen, nach allen Seiten zu reproduciren. Bewegt
sich ein Punct, so nimmt er diesen nisus überall hin
mit, wohin er kommt. Soll er sich selbst in diesem nisus
nicht stören: so muſs die Linie gerade fortgehn, wie so-
gleich noch klärer werden wird.
Man ziehe zwey convergirende Linien. Bey
der mindesten Convergenz, und indem man nur anfängt,
ihr gemäſs den Zug zu beginnen, drängen und streiten
schon die seitlichen Reproductionen wider einander, denn
die Forderung der Convergenz bedeutet gerade so viel,
als: man soll im Fortgange das, von beyden Linien
her sich begegnende, Zwischen-Schieben (durch
die Reproductionsgesetze) nunmehr vermindern; wodurch
diesen Gesetzen offenbar Abbruch geschieht. — In dem
Augenblicke, wo die Linien sich schneiden, wird den
Reproductionen die gröſste Gewalt angethan; nach dem
Durchkreuzen hingegen werden sie wiederum in Freyheit
gesetzt. Und nun folgt eine andre Art von Anstrengung.
Man muſs nämlich, um die sich immer weiter entfernen-
den Linien doch noch in Gedanken zusammenzuhalten,
immer mehr zwischen sie einschieben; das heiſst, man
muſs sie selbst langsamer vorrücken lassen, damit den
seitlichen Reproductionen Zeit gelassen werde, einander
zu begegnen. Zieht man die Linien zu rasch: so ent-
läuft eine der andern.
Man ziehe eine krumme Linie. Man soll also
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/182>, abgerufen am 24.11.2024.
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