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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Der Mensch hat Hände; er hat Sprache. Er
durchlebt eine lange, hülflose Kindheit; und nur da,
wo diese Kindheit von erwachsenen Menschen gepflegt
ist, sieht man ihn beträchtlich über das Thier sich erhe-
ben. Von der Gesellschaft, in welcher er heranwächst,
ist er äusserst abhängig in Ansehung des Grades von
Bildung, den er erreicht.

Das Wesentliche ist hier die Masse von Vorstellun-
gen, und die Verarbeitung derselben, welche aus den
angezeigten Eigenthümlichkeiten des Menschen entsprin-
gen muss. Die Betrachtungen, welche sich darüber an-
stellen lassen, sind bekannt genug; und wir dürfen ihrer
nur erwähnen, um sie mit unsern frühern Untersuchun-
gen in Verbindung zu setzen.

Beachtet man ein junges Thier, zu der Zeit, wo es
spielt, wie wir sagen, oder besser, wo es die äussern
Gegenstände nach seiner Art betastet, sie hin und her
wirft, und ihnen die mannigfaltigen Erscheinungen, welche
sie darbieten können, abzugewinnen sucht: dann muss es
auffallen, wie sehr dem Thiere die Hände fehlen, schon
bloss in so fern dadurch die Dinge genöthigt werden, ihre
sinnlichen Kennzeichen zu offenbaren. Das Thier kann
nichts eigentlich greifen, nichts bequem zur Anschauung
hinstellen; es erfährt nichts von allen dem, was durch
den Gebrauch der Hände das menschliche Kind aus den
Versuchen lernt, die es mit den Dingen vornimmt.
Deshalb bleibt der Vorstellungskreis des Thiers schon in
seinen allerersten Anfängen hinter dem menschlichen zu-
rück. Hier macht der Elephant mit seinem Rüssel, so
wie der Affe mit seinen, der Hand ähnlichen Werkzeu-
gen, gewissermaassen eine Ausnahme, die offenbar ihre
bedeutenden Folgen hat.

Dabey müssen wir die Frage erheben, ob das Thier
so mannigfaltiger Sensationen durch die gleichen Sinne
fähig sey wie der Mensch? Der scharfe Geruch mancher
Thiere scheint dennoch das Wohlriechende nicht zu ken-
nen. Auch das Bunte der Farben macht auf sie nicht

Der Mensch hat Hände; er hat Sprache. Er
durchlebt eine lange, hülflose Kindheit; und nur da,
wo diese Kindheit von erwachsenen Menschen gepflegt
ist, sieht man ihn beträchtlich über das Thier sich erhe-
ben. Von der Gesellschaft, in welcher er heranwächst,
ist er äuſserst abhängig in Ansehung des Grades von
Bildung, den er erreicht.

Das Wesentliche ist hier die Masse von Vorstellun-
gen, und die Verarbeitung derselben, welche aus den
angezeigten Eigenthümlichkeiten des Menschen entsprin-
gen muſs. Die Betrachtungen, welche sich darüber an-
stellen lassen, sind bekannt genug; und wir dürfen ihrer
nur erwähnen, um sie mit unsern frühern Untersuchun-
gen in Verbindung zu setzen.

Beachtet man ein junges Thier, zu der Zeit, wo es
spielt, wie wir sagen, oder besser, wo es die äuſsern
Gegenstände nach seiner Art betastet, sie hin und her
wirft, und ihnen die mannigfaltigen Erscheinungen, welche
sie darbieten können, abzugewinnen sucht: dann muſs es
auffallen, wie sehr dem Thiere die Hände fehlen, schon
bloſs in so fern dadurch die Dinge genöthigt werden, ihre
sinnlichen Kennzeichen zu offenbaren. Das Thier kann
nichts eigentlich greifen, nichts bequem zur Anschauung
hinstellen; es erfährt nichts von allen dem, was durch
den Gebrauch der Hände das menschliche Kind aus den
Versuchen lernt, die es mit den Dingen vornimmt.
Deshalb bleibt der Vorstellungskreis des Thiers schon in
seinen allerersten Anfängen hinter dem menschlichen zu-
rück. Hier macht der Elephant mit seinem Rüssel, so
wie der Affe mit seinen, der Hand ähnlichen Werkzeu-
gen, gewissermaaſsen eine Ausnahme, die offenbar ihre
bedeutenden Folgen hat.

Dabey müssen wir die Frage erheben, ob das Thier
so mannigfaltiger Sensationen durch die gleichen Sinne
fähig sey wie der Mensch? Der scharfe Geruch mancher
Thiere scheint dennoch das Wohlriechende nicht zu ken-
nen. Auch das Bunte der Farben macht auf sie nicht

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[231/0266] Der Mensch hat Hände; er hat Sprache. Er durchlebt eine lange, hülflose Kindheit; und nur da, wo diese Kindheit von erwachsenen Menschen gepflegt ist, sieht man ihn beträchtlich über das Thier sich erhe- ben. Von der Gesellschaft, in welcher er heranwächst, ist er äuſserst abhängig in Ansehung des Grades von Bildung, den er erreicht. Das Wesentliche ist hier die Masse von Vorstellun- gen, und die Verarbeitung derselben, welche aus den angezeigten Eigenthümlichkeiten des Menschen entsprin- gen muſs. Die Betrachtungen, welche sich darüber an- stellen lassen, sind bekannt genug; und wir dürfen ihrer nur erwähnen, um sie mit unsern frühern Untersuchun- gen in Verbindung zu setzen. Beachtet man ein junges Thier, zu der Zeit, wo es spielt, wie wir sagen, oder besser, wo es die äuſsern Gegenstände nach seiner Art betastet, sie hin und her wirft, und ihnen die mannigfaltigen Erscheinungen, welche sie darbieten können, abzugewinnen sucht: dann muſs es auffallen, wie sehr dem Thiere die Hände fehlen, schon bloſs in so fern dadurch die Dinge genöthigt werden, ihre sinnlichen Kennzeichen zu offenbaren. Das Thier kann nichts eigentlich greifen, nichts bequem zur Anschauung hinstellen; es erfährt nichts von allen dem, was durch den Gebrauch der Hände das menschliche Kind aus den Versuchen lernt, die es mit den Dingen vornimmt. Deshalb bleibt der Vorstellungskreis des Thiers schon in seinen allerersten Anfängen hinter dem menschlichen zu- rück. Hier macht der Elephant mit seinem Rüssel, so wie der Affe mit seinen, der Hand ähnlichen Werkzeu- gen, gewissermaaſsen eine Ausnahme, die offenbar ihre bedeutenden Folgen hat. Dabey müssen wir die Frage erheben, ob das Thier so mannigfaltiger Sensationen durch die gleichen Sinne fähig sey wie der Mensch? Der scharfe Geruch mancher Thiere scheint dennoch das Wohlriechende nicht zu ken- nen. Auch das Bunte der Farben macht auf sie nicht

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/266>, abgerufen am 22.11.2024.