meinen Begriffs solcher Identität, auf den vorkom- menden Fall angewendet wird. Ursprünglich aber musste sich der Begriff des Selbst erst erzeugen; und zwar gerade aus jenem Zusammenfallen, Verschmelzen, und mit vereinter Kraft Hervortreten der beyden gleich- artigen Elemente zweyer in einander zurücklaufenden Vorstellungsreihen. Es versteht sich, dass solcher Fälle sehr viele vorkommen und sich unter einander im Be- wusstseyn verbinden müssen, ehe der allgemeine Begriff der Identität und Reciprocität, die das Selbst ausdrückt, sich bilden kann.
Dass nun lebende Wesen jeden Augenblick zu sol- chen Beobachtungen Gelegenheit geben, die nur mit Hülfe des Begriffs vom Selbst können gedacht werden, liegt offenbar vor Augen. Jedes absichtliche Han- deln, wie es unmittelbar aus einer Begehrung hervor- geht, (§. 129. gegen das Ende), zeigt dem Beobachter einen Handelnden, der für sich selbst etwas zu errei- chen sucht; denn wessen die Thätigkeit ist, des- sen wird auch die Befriedigung seyn. Das Thier sucht nach Nahrung; es selbst wird sie geniessen. Je- mand öffnet eine Thüre; er selbst wird hinausgehn. -- Noch mehr: der Mensch bewegt Hand und Fuss; er selbst sieht diese Bewegung. Oder umgekehrt: er sieht einen Gegenstand, den er durch seine Bewegung vermei- den muss; er selbst macht die vermeidende Bewegung.
Kommt zu dergleichen Handlungen die innere Wahr- nehmung (§. 126. u. s. w.) so kann es nicht fehlen, dass auf die mannigfaltigste Weise das Selbst angewendet werde zur Bestimmung derjenigen Complexion, deren Grundlage die Auffassung des eignen Leibes darbietet, und die ausserdem nach dem vorigen §. schon als ein Ding, dem Vorstellungen anderer Dinge beywohnen, be- kannt ist. Das Kind, welches sein: Karl will essen, gehen, u. s. w. ausspricht, findet in jedem Augenblicke sich selbst als den Mittelpunct seiner Bestrebungen, Ge- niessungen und Beobachtungen. Und nun lässt sich je-
meinen Begriffs solcher Identität, auf den vorkom- menden Fall angewendet wird. Ursprünglich aber muſste sich der Begriff des Selbst erst erzeugen; und zwar gerade aus jenem Zusammenfallen, Verschmelzen, und mit vereinter Kraft Hervortreten der beyden gleich- artigen Elemente zweyer in einander zurücklaufenden Vorstellungsreihen. Es versteht sich, daſs solcher Fälle sehr viele vorkommen und sich unter einander im Be- wuſstseyn verbinden müssen, ehe der allgemeine Begriff der Identität und Reciprocität, die das Selbst ausdrückt, sich bilden kann.
Daſs nun lebende Wesen jeden Augenblick zu sol- chen Beobachtungen Gelegenheit geben, die nur mit Hülfe des Begriffs vom Selbst können gedacht werden, liegt offenbar vor Augen. Jedes absichtliche Han- deln, wie es unmittelbar aus einer Begehrung hervor- geht, (§. 129. gegen das Ende), zeigt dem Beobachter einen Handelnden, der für sich selbst etwas zu errei- chen sucht; denn wessen die Thätigkeit ist, des- sen wird auch die Befriedigung seyn. Das Thier sucht nach Nahrung; es selbst wird sie genieſsen. Je- mand öffnet eine Thüre; er selbst wird hinausgehn. — Noch mehr: der Mensch bewegt Hand und Fuſs; er selbst sieht diese Bewegung. Oder umgekehrt: er sieht einen Gegenstand, den er durch seine Bewegung vermei- den muſs; er selbst macht die vermeidende Bewegung.
Kommt zu dergleichen Handlungen die innere Wahr- nehmung (§. 126. u. s. w.) so kann es nicht fehlen, daſs auf die mannigfaltigste Weise das Selbst angewendet werde zur Bestimmung derjenigen Complexion, deren Grundlage die Auffassung des eignen Leibes darbietet, und die auſserdem nach dem vorigen §. schon als ein Ding, dem Vorstellungen anderer Dinge beywohnen, be- kannt ist. Das Kind, welches sein: Karl will essen, gehen, u. s. w. ausspricht, findet in jedem Augenblicke sich selbst als den Mittelpunct seiner Bestrebungen, Ge- nieſsungen und Beobachtungen. Und nun läſst sich je-
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meinen Begriffs solcher Identität, auf den vorkom-
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gerade aus jenem Zusammenfallen, Verschmelzen, und
mit vereinter Kraft Hervortreten der beyden gleich-
artigen Elemente zweyer in einander zurücklaufenden
Vorstellungsreihen. Es versteht sich, daſs solcher Fälle
sehr viele vorkommen und sich unter einander im Be-
wuſstseyn verbinden müssen, ehe der allgemeine Begriff
der Identität und Reciprocität, die das Selbst ausdrückt,
sich bilden kann.
Daſs nun lebende Wesen jeden Augenblick zu sol-
chen Beobachtungen Gelegenheit geben, die nur mit
Hülfe des Begriffs vom Selbst können gedacht werden,
liegt offenbar vor Augen. Jedes absichtliche Han-
deln, wie es unmittelbar aus einer Begehrung hervor-
geht, (§. 129. gegen das Ende), zeigt dem Beobachter
einen Handelnden, der für sich selbst etwas zu errei-
chen sucht; denn wessen die Thätigkeit ist, des-
sen wird auch die Befriedigung seyn. Das Thier
sucht nach Nahrung; es selbst wird sie genieſsen. Je-
mand öffnet eine Thüre; er selbst wird hinausgehn. —
Noch mehr: der Mensch bewegt Hand und Fuſs; er
selbst sieht diese Bewegung. Oder umgekehrt: er sieht
einen Gegenstand, den er durch seine Bewegung vermei-
den muſs; er selbst macht die vermeidende Bewegung.
Kommt zu dergleichen Handlungen die innere Wahr-
nehmung (§. 126. u. s. w.) so kann es nicht fehlen, daſs
auf die mannigfaltigste Weise das Selbst angewendet
werde zur Bestimmung derjenigen Complexion, deren
Grundlage die Auffassung des eignen Leibes darbietet,
und die auſserdem nach dem vorigen §. schon als ein
Ding, dem Vorstellungen anderer Dinge beywohnen, be-
kannt ist. Das Kind, welches sein: Karl will essen,
gehen, u. s. w. ausspricht, findet in jedem Augenblicke
sich selbst als den Mittelpunct seiner Bestrebungen, Ge-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/303>, abgerufen am 22.11.2024.
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