Kant soviel heissen soll, als Wechselwirkung. Diese letztere ist ihrem wahren Begriffe nach nichts als Cau- salität zweymal gedacht, rückwärts und vorwärts zwischen zwey Dingen. Daran knüpfte Kant sogar den ganz un- erträglichen, durch ein blosses Sophisma eingeführten, für die Metaphysik und Physik grundverderblichen Satz von einer allgemeinen Wechselwirkung aller Substanzen im Raume. Doch von Kants falschen Causalitäts-Be- griffen wird tiefer unten die Rede seyn. Wie es mög- lich war, dass er, sammt allen seinen Nachfolgern, den seiner Schule so wichtigen Begriff der Selbstbestimmung, oder, wie Fichte sagte, der in sich zurückgehen- den Thätigkeit, bey den vorgeblichen Stammbegriffen des menschlichen Verstandes mit aufzuführen vergass, ist kaum zu begreifen.
Oder soll man glauben, er habe ihn absichtlich ver- schmäht, als von Kategorien die Rede war? Er habe diesen Schatz für die moralischen Begriffe aufbehalten wollen? Freylich ist in seiner Antinomien-Lehre, wo der Begriff der transscendentalen Freyheit, mit sehr löb- licher Vorsicht, als ein bloss theoretischer Begriff, ohne praktische Beziehung behandelt wird, noch von keiner Selbstbestimmung im strengen Sinn die Rede. Er lässt hier die Freyheit zwar von selbst anfangen, das heisst aber noch nicht soviel als durch sich selbst; jenes von selbst ist nur absolutes Werden, hingegen der Be- griff der Selbstbestimmung erfordert ganz ausdrücklich eine Activität des Bestimmens, woraus eine Passivität des Bestimmt-Werdens in dem nämlichen Subjecte entstehe *). Aber wenn dies eine absichtliche Scheidung war, damit die praktische Vernunft allein als die Activität der Selbst- bestimmung in der moralischen Freyheit auftrete: so blieb diese Scheidung immer ein offenbares Versehen. Denn die Kategorien mussten wenigstens für die Erfahrung zu-
*) Man vergleiche den vierten Abschnitt meiner Einleitung in die Philosophie.
Kant soviel heiſsen soll, als Wechselwirkung. Diese letztere ist ihrem wahren Begriffe nach nichts als Cau- salität zweymal gedacht, rückwärts und vorwärts zwischen zwey Dingen. Daran knüpfte Kant sogar den ganz un- erträglichen, durch ein bloſses Sophisma eingeführten, für die Metaphysik und Physik grundverderblichen Satz von einer allgemeinen Wechselwirkung aller Substanzen im Raume. Doch von Kants falschen Causalitäts-Be- griffen wird tiefer unten die Rede seyn. Wie es mög- lich war, daſs er, sammt allen seinen Nachfolgern, den seiner Schule so wichtigen Begriff der Selbstbestimmung, oder, wie Fichte sagte, der in sich zurückgehen- den Thätigkeit, bey den vorgeblichen Stammbegriffen des menschlichen Verstandes mit aufzuführen vergaſs, ist kaum zu begreifen.
Oder soll man glauben, er habe ihn absichtlich ver- schmäht, als von Kategorien die Rede war? Er habe diesen Schatz für die moralischen Begriffe aufbehalten wollen? Freylich ist in seiner Antinomien-Lehre, wo der Begriff der transscendentalen Freyheit, mit sehr löb- licher Vorsicht, als ein bloſs theoretischer Begriff, ohne praktische Beziehung behandelt wird, noch von keiner Selbstbestimmung im strengen Sinn die Rede. Er läſst hier die Freyheit zwar von selbst anfangen, das heiſst aber noch nicht soviel als durch sich selbst; jenes von selbst ist nur absolutes Werden, hingegen der Be- griff der Selbstbestimmung erfordert ganz ausdrücklich eine Activität des Bestimmens, woraus eine Passivität des Bestimmt-Werdens in dem nämlichen Subjecte entstehe *). Aber wenn dies eine absichtliche Scheidung war, damit die praktische Vernunft allein als die Activität der Selbst- bestimmung in der moralischen Freyheit auftrete: so blieb diese Scheidung immer ein offenbares Versehen. Denn die Kategorien muſsten wenigstens für die Erfahrung zu-
*) Man vergleiche den vierten Abschnitt meiner Einleitung in die Philosophie.
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Kant soviel heiſsen soll, als Wechselwirkung. Diese
letztere ist ihrem wahren Begriffe nach nichts als Cau-
salität zweymal gedacht, rückwärts und vorwärts zwischen
zwey Dingen. Daran knüpfte Kant sogar den ganz un-
erträglichen, durch ein bloſses Sophisma eingeführten,
für die Metaphysik und Physik grundverderblichen Satz
von einer allgemeinen Wechselwirkung aller Substanzen
im Raume. Doch von Kants falschen Causalitäts-Be-
griffen wird tiefer unten die Rede seyn. Wie es mög-
lich war, daſs er, sammt allen seinen Nachfolgern, den
seiner Schule so wichtigen Begriff der Selbstbestimmung,
oder, wie Fichte sagte, der in sich zurückgehen-
den Thätigkeit, bey den vorgeblichen Stammbegriffen
des menschlichen Verstandes mit aufzuführen vergaſs, ist
kaum zu begreifen.
Oder soll man glauben, er habe ihn absichtlich ver-
schmäht, als von Kategorien die Rede war? Er habe
diesen Schatz für die moralischen Begriffe aufbehalten
wollen? Freylich ist in seiner Antinomien-Lehre, wo
der Begriff der transscendentalen Freyheit, mit sehr löb-
licher Vorsicht, als ein bloſs theoretischer Begriff, ohne
praktische Beziehung behandelt wird, noch von keiner
Selbstbestimmung im strengen Sinn die Rede. Er läſst
hier die Freyheit zwar von selbst anfangen, das heiſst
aber noch nicht soviel als durch sich selbst; jenes
von selbst ist nur absolutes Werden, hingegen der Be-
griff der Selbstbestimmung erfordert ganz ausdrücklich eine
Activität des Bestimmens, woraus eine Passivität des
Bestimmt-Werdens in dem nämlichen Subjecte entstehe *).
Aber wenn dies eine absichtliche Scheidung war, damit
die praktische Vernunft allein als die Activität der Selbst-
bestimmung in der moralischen Freyheit auftrete: so blieb
diese Scheidung immer ein offenbares Versehen. Denn
die Kategorien muſsten wenigstens für die Erfahrung zu-
*) Man vergleiche den vierten Abschnitt meiner Einleitung in
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/305>, abgerufen am 22.11.2024.
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