Die Auffassung des Abwesenden und Vergangenen zusammengenommen vollendet auch erst die Ablösung der eignen Person von der Umgebung. Jemand, der immer nur in Einem Zimmer gelebt hätte, würde zwar, wegen seiner Beweglichkeit im Zimmer, nicht seine Per- son und die Sachen im Zimmer für Ein Ding halten, (§. 132. am Ende, und §. 118.); aber doch würde er sich und diese Sachen immer wenigstens in unvollkomm- nen Complexionen (§. 63.) vorstellen, so lange er sich nicht in andern Umgebungen befunden hätte. Das Kind weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt, nicht bloss seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die Vorstellungen der bekannten Umgebung jetzt, in der un- bekannten, eine Hemmung erleiden, die sich vermöge des Mechanismus der Complexionen, auf die Vorstellung von seiner eignen Person fortpflanzt. Selbst der mehr herangewachsene Mensch empfindet eine ähnliche Hem- mung im Dunkeln; er singt, er spricht und schreyet, um etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu haben, das mit der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge. Sogar unsre Kleidung wächst mehr oder weniger mit dem Ich zusammen. -- Indem aber der Mensch sich in mancher- ley Umgebungen bewegt, und in jeder neuen sich der abwesenden und vergangenen erinnert, wird ihm für sein eignes Selbst jede Umgebung mehr und mehr als zufällig erscheinen.
Ist er ferner dahin gekommen (durch Erfahrungen und Erzählungen), dass ihm ein ganzes menschliches Le- ben in Einer Zeitstrecke erscheint, worin der Leib seine Gestalt und Grösse verändert: so lös't sich auch einiger- maassen die Auffassung des eigenen Leibes, wie sie jetzt ist, ab von der Complexion, deren Grundlage sie An- fangs hergab. Doch als ganz zufällig für die eigne Per- sönlichkeit erscheint der Leib erst auf höheren Culturstu- fen, nachdem der Tod den Verfall des Leibes vor Au- gen gelegt, und sich eine Ahndung von Fortdauer auch ohne diesen Leib gebildet hat, -- welches bekanntlich
Die Auffassung des Abwesenden und Vergangenen zusammengenommen vollendet auch erst die Ablösung der eignen Person von der Umgebung. Jemand, der immer nur in Einem Zimmer gelebt hätte, würde zwar, wegen seiner Beweglichkeit im Zimmer, nicht seine Per- son und die Sachen im Zimmer für Ein Ding halten, (§. 132. am Ende, und §. 118.); aber doch würde er sich und diese Sachen immer wenigstens in unvollkomm- nen Complexionen (§. 63.) vorstellen, so lange er sich nicht in andern Umgebungen befunden hätte. Das Kind weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt, nicht bloſs seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die Vorstellungen der bekannten Umgebung jetzt, in der un- bekannten, eine Hemmung erleiden, die sich vermöge des Mechanismus der Complexionen, auf die Vorstellung von seiner eignen Person fortpflanzt. Selbst der mehr herangewachsene Mensch empfindet eine ähnliche Hem- mung im Dunkeln; er singt, er spricht und schreyet, um etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu haben, das mit der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge. Sogar unsre Kleidung wächst mehr oder weniger mit dem Ich zusammen. — Indem aber der Mensch sich in mancher- ley Umgebungen bewegt, und in jeder neuen sich der abwesenden und vergangenen erinnert, wird ihm für sein eignes Selbst jede Umgebung mehr und mehr als zufällig erscheinen.
Ist er ferner dahin gekommen (durch Erfahrungen und Erzählungen), daſs ihm ein ganzes menschliches Le- ben in Einer Zeitstrecke erscheint, worin der Leib seine Gestalt und Gröſse verändert: so lös’t sich auch einiger- maaſsen die Auffassung des eigenen Leibes, wie sie jetzt ist, ab von der Complexion, deren Grundlage sie An- fangs hergab. Doch als ganz zufällig für die eigne Per- sönlichkeit erscheint der Leib erst auf höheren Culturstu- fen, nachdem der Tod den Verfall des Leibes vor Au- gen gelegt, und sich eine Ahndung von Fortdauer auch ohne diesen Leib gebildet hat, — welches bekanntlich
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Die Auffassung des Abwesenden und Vergangenen
zusammengenommen vollendet auch erst die Ablösung
der eignen Person von der Umgebung. Jemand, der
immer nur in Einem Zimmer gelebt hätte, würde zwar,
wegen seiner Beweglichkeit im Zimmer, nicht seine Per-
son und die Sachen im Zimmer für Ein Ding halten,
(§. 132. am Ende, und §. 118.); aber doch würde er
sich und diese Sachen immer wenigstens in unvollkomm-
nen Complexionen (§. 63.) vorstellen, so lange er sich
nicht in andern Umgebungen befunden hätte. Das Kind
weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt,
nicht bloſs seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die
Vorstellungen der bekannten Umgebung jetzt, in der un-
bekannten, eine Hemmung erleiden, die sich vermöge
des Mechanismus der Complexionen, auf die Vorstellung
von seiner eignen Person fortpflanzt. Selbst der mehr
herangewachsene Mensch empfindet eine ähnliche Hem-
mung im Dunkeln; er singt, er spricht und schreyet, um
etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu haben, das mit
der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge. Sogar
unsre Kleidung wächst mehr oder weniger mit dem Ich
zusammen. — Indem aber der Mensch sich in mancher-
ley Umgebungen bewegt, und in jeder neuen sich der
abwesenden und vergangenen erinnert, wird ihm für sein
eignes Selbst jede Umgebung mehr und mehr als zufällig
erscheinen.
Ist er ferner dahin gekommen (durch Erfahrungen
und Erzählungen), daſs ihm ein ganzes menschliches Le-
ben in Einer Zeitstrecke erscheint, worin der Leib seine
Gestalt und Gröſse verändert: so lös’t sich auch einiger-
maaſsen die Auffassung des eigenen Leibes, wie sie jetzt
ist, ab von der Complexion, deren Grundlage sie An-
fangs hergab. Doch als ganz zufällig für die eigne Per-
sönlichkeit erscheint der Leib erst auf höheren Culturstu-
fen, nachdem der Tod den Verfall des Leibes vor Au-
gen gelegt, und sich eine Ahndung von Fortdauer auch
ohne diesen Leib gebildet hat, — welches bekanntlich
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/311>, abgerufen am 22.11.2024.
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