Anlässen und Umständen vorzugsweise ins Bewusst- seyn. Meldet sich der Leib durch ein körperliches Ge- fühl, so erheben sich die älteren Vorstellungen gleichar- tiger Gefühle, sammt den Erinnerungen an gewisse be- gleitende Lebensumstände. Soll irgend eine Arbeit ge- macht werden: so regen sich Vorstellungen ehemaliger Beschwerden bey gleicher Arbeit, ehemals gebrauchter Mittel und angestrengter Kräfte. Zeigt sich ein Vortheil zu gewinnen, ein Genuss zu erhaschen, so erwachen Be- gierden, mit welchen zugleich sich eine genussreiche Ver- gangenheit in Gedanken vergegenwärtigt. Nun kommt zwar bey allen solchen Anlässen die ganze Complexion in einige Bewegung, aber doch in eine sehr ungleiche; so dass der mit dem Worte Ich benannte Gegenstand, wiewohl er immer ein und derselbe seyn soll, sich oft- mals kaum ähnlich sieht.
Erwacht aber vollends irgend einmal (was bey vie- len Menschen freylich nie geschieht,) die ernstliche Frage: Wer bin ich denn? so müssen sich nach einander zwey ganz entgegengesetzte Bemerkungen aufdringen. Die erste: dass für eine einfache und bestimmte Antwort auf diese Frage, es viel zu viel ist an dem ungeheuern Vor- rathe der mannigfaltigsten Merkmale in der Einen Com- plexion, die das eigne Selbst darstellen soll. Die zweyte: dass, wenn man anfängt abzusondern und auszuscheiden, was alles entbehrliches, unstetes, sich selbst aufhebendes in jener Complexion angetroffen wird, alsdann gar Nichts durchaus Vestes und Tüchtiges, am wenigsten etwas solches, das von Relationen frey, das rein selbst- ständig wäre, übrig bleibt, woran und worin man Sich selbst ein für allemal erkennen könne.
Was die erste Bemerkung anlangt, so wird sie klä- rer werden durch eine sehr viel weitere Ausdehnung, die sie im folgenden Capitel erhalten muss, wo wir sie wie- der finden werden bey der Frage, was sind die sinn- lichen Dinge, die wir durch Complexionen ih- rer Merkmale kennen lernen. Die zweyte Bemer-
Anlässen und Umständen vorzugsweise ins Bewuſst- seyn. Meldet sich der Leib durch ein körperliches Ge- fühl, so erheben sich die älteren Vorstellungen gleichar- tiger Gefühle, sammt den Erinnerungen an gewisse be- gleitende Lebensumstände. Soll irgend eine Arbeit ge- macht werden: so regen sich Vorstellungen ehemaliger Beschwerden bey gleicher Arbeit, ehemals gebrauchter Mittel und angestrengter Kräfte. Zeigt sich ein Vortheil zu gewinnen, ein Genuſs zu erhaschen, so erwachen Be- gierden, mit welchen zugleich sich eine genuſsreiche Ver- gangenheit in Gedanken vergegenwärtigt. Nun kommt zwar bey allen solchen Anlässen die ganze Complexion in einige Bewegung, aber doch in eine sehr ungleiche; so daſs der mit dem Worte Ich benannte Gegenstand, wiewohl er immer ein und derselbe seyn soll, sich oft- mals kaum ähnlich sieht.
Erwacht aber vollends irgend einmal (was bey vie- len Menschen freylich nie geschieht,) die ernstliche Frage: Wer bin ich denn? so müssen sich nach einander zwey ganz entgegengesetzte Bemerkungen aufdringen. Die erste: daſs für eine einfache und bestimmte Antwort auf diese Frage, es viel zu viel ist an dem ungeheuern Vor- rathe der mannigfaltigsten Merkmale in der Einen Com- plexion, die das eigne Selbst darstellen soll. Die zweyte: daſs, wenn man anfängt abzusondern und auszuscheiden, was alles entbehrliches, unstetes, sich selbst aufhebendes in jener Complexion angetroffen wird, alsdann gar Nichts durchaus Vestes und Tüchtiges, am wenigsten etwas solches, das von Relationen frey, das rein selbst- ständig wäre, übrig bleibt, woran und worin man Sich selbst ein für allemal erkennen könne.
Was die erste Bemerkung anlangt, so wird sie klä- rer werden durch eine sehr viel weitere Ausdehnung, die sie im folgenden Capitel erhalten muſs, wo wir sie wie- der finden werden bey der Frage, was sind die sinn- lichen Dinge, die wir durch Complexionen ih- rer Merkmale kennen lernen. Die zweyte Bemer-
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Anlässen und Umständen vorzugsweise ins Bewuſst-
seyn. Meldet sich der Leib durch ein körperliches Ge-
fühl, so erheben sich die älteren Vorstellungen gleichar-
tiger Gefühle, sammt den Erinnerungen an gewisse be-
gleitende Lebensumstände. Soll irgend eine Arbeit ge-
macht werden: so regen sich Vorstellungen ehemaliger
Beschwerden bey gleicher Arbeit, ehemals gebrauchter
Mittel und angestrengter Kräfte. Zeigt sich ein Vortheil
zu gewinnen, ein Genuſs zu erhaschen, so erwachen Be-
gierden, mit welchen zugleich sich eine genuſsreiche Ver-
gangenheit in Gedanken vergegenwärtigt. Nun kommt
zwar bey allen solchen Anlässen die ganze Complexion
in einige Bewegung, aber doch in eine sehr ungleiche;
so daſs der mit dem Worte Ich benannte Gegenstand,
wiewohl er immer ein und derselbe seyn soll, sich oft-
mals kaum ähnlich sieht.
Erwacht aber vollends irgend einmal (was bey vie-
len Menschen freylich nie geschieht,) die ernstliche Frage:
Wer bin ich denn? so müssen sich nach einander
zwey ganz entgegengesetzte Bemerkungen aufdringen. Die
erste: daſs für eine einfache und bestimmte Antwort auf
diese Frage, es viel zu viel ist an dem ungeheuern Vor-
rathe der mannigfaltigsten Merkmale in der Einen Com-
plexion, die das eigne Selbst darstellen soll. Die zweyte:
daſs, wenn man anfängt abzusondern und auszuscheiden,
was alles entbehrliches, unstetes, sich selbst aufhebendes
in jener Complexion angetroffen wird, alsdann gar
Nichts durchaus Vestes und Tüchtiges, am wenigsten
etwas solches, das von Relationen frey, das rein selbst-
ständig wäre, übrig bleibt, woran und worin man Sich
selbst ein für allemal erkennen könne.
Was die erste Bemerkung anlangt, so wird sie klä-
rer werden durch eine sehr viel weitere Ausdehnung, die
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rer Merkmale kennen lernen. Die zweyte Bemer-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/321>, abgerufen am 22.11.2024.
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