keine Kantische Synthesis nöthig, um aus den einzelnen Merkmalen ein Aggregat zu machen *); sondern die gleichzeitigen Wahrnehmungen compliciren sich ohne Weiteres in der Einen Seele, und es wird Ein unge- theilter Act des Vorstellens, Eine Totalkraft, vermöge deren das sinnliche Ding als Ein Ding vorgestellt wird, ohne den geringsten Zweifel, ob denn auch die (noch gar nicht unterschiedenen) Merkmale zusammengenom- men Eins, und Was für Eins sie ausmachen? Dieser Mechanismus der Complexionen wirkt im gemeinen Vor- stellen der Dinge überall. Wir sehen eine Flamme, und denken das Heisse zugleich als leuchtend, als spit- zig und beweglich; es fällt uns nicht ein, nach der Einheit von heiss und leuchtend und spitzig und beweglich zu fragen. Wir kennen auf die Weise und in diesem Sinne wirklich viel früher das Warme als die Wärme. -- Hintennach, viel später, und gar nicht alle auf einmal, sondern gelegentlich eine oder die andre, kommen die Abstractionen; es bildet sich der Begriff der Wärme, ein andermal des Lichts, wieder ein andermal des Spitzigen und Beweglichen; aber erst nachdem sie alle sich zusammengefunden haben, wird nun end- lich entdeckt, dass diese Merkmale, unter dem Na- men der Flamme zusammengefasst, nur ein Aggregat ausmachen, und dass man wohl fragen könne, was denn das eigentlich für ein Stoff sey, dem diese Merkmale zukommen? Nun endlich erst kann von einer Substanz die Rede seyn, nachdem man dahinter gekommen ist, dass das Eine Ding (dessen Einheit ein psychologisches Phänomen war,) sich in mehrere Merkmale gänzlich auf- lösen lasse, deren bisher blindlings vorausgesetzte Ein- heit man noch keinesweges besitze, sondern jetzt aufzusuchen habe; und zwar in einem übersinnlichen
*) Man wolle hier und im Folgenden, den §. 118. im Auge behalten.
keine Kantische Synthesis nöthig, um aus den einzelnen Merkmalen ein Aggregat zu machen *); sondern die gleichzeitigen Wahrnehmungen compliciren sich ohne Weiteres in der Einen Seele, und es wird Ein unge- theilter Act des Vorstellens, Eine Totalkraft, vermöge deren das sinnliche Ding als Ein Ding vorgestellt wird, ohne den geringsten Zweifel, ob denn auch die (noch gar nicht unterschiedenen) Merkmale zusammengenom- men Eins, und Was für Eins sie ausmachen? Dieser Mechanismus der Complexionen wirkt im gemeinen Vor- stellen der Dinge überall. Wir sehen eine Flamme, und denken das Heiſse zugleich als leuchtend, als spit- zig und beweglich; es fällt uns nicht ein, nach der Einheit von heiſs und leuchtend und spitzig und beweglich zu fragen. Wir kennen auf die Weise und in diesem Sinne wirklich viel früher das Warme als die Wärme. — Hintennach, viel später, und gar nicht alle auf einmal, sondern gelegentlich eine oder die andre, kommen die Abstractionen; es bildet sich der Begriff der Wärme, ein andermal des Lichts, wieder ein andermal des Spitzigen und Beweglichen; aber erst nachdem sie alle sich zusammengefunden haben, wird nun end- lich entdeckt, daſs diese Merkmale, unter dem Na- men der Flamme zusammengefaſst, nur ein Aggregat ausmachen, und daſs man wohl fragen könne, was denn das eigentlich für ein Stoff sey, dem diese Merkmale zukommen? Nun endlich erst kann von einer Substanz die Rede seyn, nachdem man dahinter gekommen ist, daſs das Eine Ding (dessen Einheit ein psychologisches Phänomen war,) sich in mehrere Merkmale gänzlich auf- lösen lasse, deren bisher blindlings vorausgesetzte Ein- heit man noch keinesweges besitze, sondern jetzt aufzusuchen habe; und zwar in einem übersinnlichen
*) Man wolle hier und im Folgenden, den §. 118. im Auge behalten.
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keine Kantische Synthesis nöthig, um aus den einzelnen
Merkmalen ein Aggregat zu machen *); sondern die
gleichzeitigen Wahrnehmungen compliciren sich ohne
Weiteres in der Einen Seele, und es wird Ein unge-
theilter Act des Vorstellens, Eine Totalkraft, vermöge
deren das sinnliche Ding als Ein Ding vorgestellt wird,
ohne den geringsten Zweifel, ob denn auch die (noch
gar nicht unterschiedenen) Merkmale zusammengenom-
men Eins, und Was für Eins sie ausmachen? Dieser
Mechanismus der Complexionen wirkt im gemeinen Vor-
stellen der Dinge überall. Wir sehen eine Flamme, und
denken das Heiſse zugleich als leuchtend, als spit-
zig und beweglich; es fällt uns nicht ein, nach der
Einheit von heiſs und leuchtend und spitzig und
beweglich zu fragen. Wir kennen auf die Weise und
in diesem Sinne wirklich viel früher das Warme als die
Wärme. — Hintennach, viel später, und gar nicht alle
auf einmal, sondern gelegentlich eine oder die andre,
kommen die Abstractionen; es bildet sich der Begriff der
Wärme, ein andermal des Lichts, wieder ein andermal des
Spitzigen und Beweglichen; aber erst nachdem sie alle
sich zusammengefunden haben, wird nun end-
lich entdeckt, daſs diese Merkmale, unter dem Na-
men der Flamme zusammengefaſst, nur ein Aggregat
ausmachen, und daſs man wohl fragen könne, was denn
das eigentlich für ein Stoff sey, dem diese Merkmale
zukommen? Nun endlich erst kann von einer Substanz
die Rede seyn, nachdem man dahinter gekommen ist,
daſs das Eine Ding (dessen Einheit ein psychologisches
Phänomen war,) sich in mehrere Merkmale gänzlich auf-
lösen lasse, deren bisher blindlings vorausgesetzte Ein-
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*) Man wolle hier und im Folgenden, den §. 118. im Auge
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/341>, abgerufen am 22.11.2024.
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