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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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betrachten. Und es ist doch eine so seltsame Umkeh-
rung, welcher wir hier begegnen!

Die Gefühle deren, die sich überhaupt in der End-
lichkeit eingeschlossen finden, will ich nicht schildern.
Es ist mir genug zu bemerken, dass selbst Kant, mit
der grössten Nüchternheit des Ausdrucks, für gut findet,
das Messen eines Raumes auch als eine Synthesis einer
Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten
anzusehen; und zwar darum, weil die weiter hinzuge-
dachten Räume immer die Bedingung von der Grenze
der vorigen
seyen. Was kann daraus anderes folgen,
als dass der unendliche Raum die Bedingung unseres
Gesichtskreises sey? Und in der That stellt Kant es in
seiner ersten Antithesis als eine gewichtvolle Schwierig-
keit dar: die Sinnenwelt, wenn sie begränzt sey,
liege nothwendig in dem unendlichen Leeren
.
Ich gestehe, dass ich noch niemals dahin gelangt bin,
darin auch nur das Geringste zu finden, was Besorgniss
erregen könnte. Das Leere ausser der Welt belästigt
mich gerade so wenig, als das Leere in der Welt, oder
auch nur die ungleiche Dichtigkeit dessen, was den Raum
erfüllt. Da dieser letztere Umstand in der Erfahrung vor
Augen liegt, so würde ich, selbst noch vor irgend einer
metaphysischen Ueberlegung, mich sehr wundern, wenn
irgendwo und irgendwie, das Leere dem Vollen, das
Nichts dem Etwas, ein Gesetz vorschreiben, oder es in
irgend eine Verlegenheit verwickeln könnte. Aber der
Grundfehler lag hier schon in den ersten Elementen der
Raumlehre; in dem Satze, der Raum sey als ein einzi-
ges, Unendliches der reinen Anschauung gegeben. Dar-
aus verstand sich denn freylich von selbst, dass die end-
lichen Raumtheile als durch Begränzung, durch Sonde-
rung hervorgehoben, mussten angesehen werden; und dass
sich zu ihnen das Unendliche wie das Erste zum Zwey-
ten verhielt. Wenn man aber nicht auf dem Stand-
puncte der Kantischen transscendentalen Aesthetik steht:
wie kommt man alsdann -- und wie kamen so viele frü-

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betrachten. Und es ist doch eine so seltsame Umkeh-
rung, welcher wir hier begegnen!

Die Gefühle deren, die sich überhaupt in der End-
lichkeit eingeschlossen finden, will ich nicht schildern.
Es ist mir genug zu bemerken, daſs selbst Kant, mit
der gröſsten Nüchternheit des Ausdrucks, für gut findet,
das Messen eines Raumes auch als eine Synthesis einer
Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten
anzusehen; und zwar darum, weil die weiter hinzuge-
dachten Räume immer die Bedingung von der Grenze
der vorigen
seyen. Was kann daraus anderes folgen,
als daſs der unendliche Raum die Bedingung unseres
Gesichtskreises sey? Und in der That stellt Kant es in
seiner ersten Antithesis als eine gewichtvolle Schwierig-
keit dar: die Sinnenwelt, wenn sie begränzt sey,
liege nothwendig in dem unendlichen Leeren
.
Ich gestehe, daſs ich noch niemals dahin gelangt bin,
darin auch nur das Geringste zu finden, was Besorgniſs
erregen könnte. Das Leere auſser der Welt belästigt
mich gerade so wenig, als das Leere in der Welt, oder
auch nur die ungleiche Dichtigkeit dessen, was den Raum
erfüllt. Da dieser letztere Umstand in der Erfahrung vor
Augen liegt, so würde ich, selbst noch vor irgend einer
metaphysischen Ueberlegung, mich sehr wundern, wenn
irgendwo und irgendwie, das Leere dem Vollen, das
Nichts dem Etwas, ein Gesetz vorschreiben, oder es in
irgend eine Verlegenheit verwickeln könnte. Aber der
Grundfehler lag hier schon in den ersten Elementen der
Raumlehre; in dem Satze, der Raum sey als ein einzi-
ges, Unendliches der reinen Anschauung gegeben. Dar-
aus verstand sich denn freylich von selbst, daſs die end-
lichen Raumtheile als durch Begränzung, durch Sonde-
rung hervorgehoben, muſsten angesehen werden; und daſs
sich zu ihnen das Unendliche wie das Erste zum Zwey-
ten verhielt. Wenn man aber nicht auf dem Stand-
puncte der Kantischen transscendentalen Aesthetik steht:
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[384/0419] betrachten. Und es ist doch eine so seltsame Umkeh- rung, welcher wir hier begegnen! Die Gefühle deren, die sich überhaupt in der End- lichkeit eingeschlossen finden, will ich nicht schildern. Es ist mir genug zu bemerken, daſs selbst Kant, mit der gröſsten Nüchternheit des Ausdrucks, für gut findet, das Messen eines Raumes auch als eine Synthesis einer Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzusehen; und zwar darum, weil die weiter hinzuge- dachten Räume immer die Bedingung von der Grenze der vorigen seyen. Was kann daraus anderes folgen, als daſs der unendliche Raum die Bedingung unseres Gesichtskreises sey? Und in der That stellt Kant es in seiner ersten Antithesis als eine gewichtvolle Schwierig- keit dar: die Sinnenwelt, wenn sie begränzt sey, liege nothwendig in dem unendlichen Leeren. Ich gestehe, daſs ich noch niemals dahin gelangt bin, darin auch nur das Geringste zu finden, was Besorgniſs erregen könnte. Das Leere auſser der Welt belästigt mich gerade so wenig, als das Leere in der Welt, oder auch nur die ungleiche Dichtigkeit dessen, was den Raum erfüllt. Da dieser letztere Umstand in der Erfahrung vor Augen liegt, so würde ich, selbst noch vor irgend einer metaphysischen Ueberlegung, mich sehr wundern, wenn irgendwo und irgendwie, das Leere dem Vollen, das Nichts dem Etwas, ein Gesetz vorschreiben, oder es in irgend eine Verlegenheit verwickeln könnte. Aber der Grundfehler lag hier schon in den ersten Elementen der Raumlehre; in dem Satze, der Raum sey als ein einzi- ges, Unendliches der reinen Anschauung gegeben. Dar- aus verstand sich denn freylich von selbst, daſs die end- lichen Raumtheile als durch Begränzung, durch Sonde- rung hervorgehoben, muſsten angesehen werden; und daſs sich zu ihnen das Unendliche wie das Erste zum Zwey- ten verhielt. Wenn man aber nicht auf dem Stand- puncte der Kantischen transscendentalen Aesthetik steht: wie kommt man alsdann — und wie kamen so viele frü- here

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/419>, abgerufen am 22.11.2024.