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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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etwas anhaltenden Wechsel der Vorstellungsmasse im
Bewusstseyn zu bewirken vermag.

In dem Vorstehenden haben wir den Cirkel ganz
unberührt gelassen, in welchem das Begehrte sich mit
dem Guten und dem Angenehmen drehen würde, wenn
jene ältere Philosophie Recht hätte, nach welcher man
das, was sub specie boni vorgestellt wird, begehrt, und
dagegen verabscheut, was man sub specie mali vorstellt.
Es ist hievon schon oben §. 108. die Rede gewesen, und
wir werden noch mit Wenigem darauf zurück kommen.
Hier wolle der Leser in Beziehung auf das Nächst-Vor-
hergehende sich erinnern, dass dabey durchaus kein Un-
terschied des Angenehmen und Unangenehmen zum Grunde
gelegt ist; welches auch um so weniger geschehn durfte,
weil Erfahrungen genug vorhanden sind, nach welchen
oftmals sogar das Unangenehme begehrt wird.

Jetzt aber dürfen wir nicht länger säumen, uns der
praktischen Vernunft, unserm eigentlichen Gegenstande,
zu nähern; die selbst eine Art von Begehrungsvermögen
zu seyn scheint, wenn man sie nicht lieber als eine Re-
gel betrachten will, wornach die vorhandenen Begehrun-
gen sich richten sollen. Eine Frage, womit die Freunde
der Seelenvermögen wohl Ursache haben, sich ernstlich
zu beschäfftigen. Denn es ist gar nicht einerley, ob man
die praktische Vernunft, als oberes Begehrungsvermögen,
noch neben dem niedern hinstellt, so dass dadurch die
Menge der ursprünglichen Begehrungen wachse: oder ob
man eine Vernunft annimmt, die selbst nichts begehrt,
wohl aber sich auf die vorhandenen Begehrungen bezieht,
so dass für diese eine Regel entsteht, der sie sich unter-
werfen müssen. Kant, mit seiner richtigen Behauptung,
kein Sittengesetz könne eine Materie des Begehrens an-
geben, befand sich eigentlich im zweyten Falle; er ge-
rieth aber leider wieder in den ersten hinein, indem er
durch den kategorischen Imperativ der Vernunft ein ge-
bieterisches Ansehen gab, während er die ästhetischen
Urtheile über das Begehren, deren Charakter die höchste
Ruhe und Gelassenheit ist, gänzlich verfehlte.

etwas anhaltenden Wechsel der Vorstellungsmasse im
Bewuſstseyn zu bewirken vermag.

In dem Vorstehenden haben wir den Cirkel ganz
unberührt gelassen, in welchem das Begehrte sich mit
dem Guten und dem Angenehmen drehen würde, wenn
jene ältere Philosophie Recht hätte, nach welcher man
das, was ſub ſpecie boni vorgestellt wird, begehrt, und
dagegen verabscheut, was man ſub ſpecie mali vorstellt.
Es ist hievon schon oben §. 108. die Rede gewesen, und
wir werden noch mit Wenigem darauf zurück kommen.
Hier wolle der Leser in Beziehung auf das Nächst-Vor-
hergehende sich erinnern, daſs dabey durchaus kein Un-
terschied des Angenehmen und Unangenehmen zum Grunde
gelegt ist; welches auch um so weniger geschehn durfte,
weil Erfahrungen genug vorhanden sind, nach welchen
oftmals sogar das Unangenehme begehrt wird.

Jetzt aber dürfen wir nicht länger säumen, uns der
praktischen Vernunft, unserm eigentlichen Gegenstande,
zu nähern; die selbst eine Art von Begehrungsvermögen
zu seyn scheint, wenn man sie nicht lieber als eine Re-
gel betrachten will, wornach die vorhandenen Begehrun-
gen sich richten sollen. Eine Frage, womit die Freunde
der Seelenvermögen wohl Ursache haben, sich ernstlich
zu beschäfftigen. Denn es ist gar nicht einerley, ob man
die praktische Vernunft, als oberes Begehrungsvermögen,
noch neben dem niedern hinstellt, so daſs dadurch die
Menge der ursprünglichen Begehrungen wachse: oder ob
man eine Vernunft annimmt, die selbst nichts begehrt,
wohl aber sich auf die vorhandenen Begehrungen bezieht,
so daſs für diese eine Regel entsteht, der sie sich unter-
werfen müssen. Kant, mit seiner richtigen Behauptung,
kein Sittengesetz könne eine Materie des Begehrens an-
geben, befand sich eigentlich im zweyten Falle; er ge-
rieth aber leider wieder in den ersten hinein, indem er
durch den kategorischen Imperativ der Vernunft ein ge-
bieterisches Ansehen gab, während er die ästhetischen
Urtheile über das Begehren, deren Charakter die höchste
Ruhe und Gelassenheit ist, gänzlich verfehlte.

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[408/0443] etwas anhaltenden Wechsel der Vorstellungsmasse im Bewuſstseyn zu bewirken vermag. In dem Vorstehenden haben wir den Cirkel ganz unberührt gelassen, in welchem das Begehrte sich mit dem Guten und dem Angenehmen drehen würde, wenn jene ältere Philosophie Recht hätte, nach welcher man das, was ſub ſpecie boni vorgestellt wird, begehrt, und dagegen verabscheut, was man ſub ſpecie mali vorstellt. Es ist hievon schon oben §. 108. die Rede gewesen, und wir werden noch mit Wenigem darauf zurück kommen. Hier wolle der Leser in Beziehung auf das Nächst-Vor- hergehende sich erinnern, daſs dabey durchaus kein Un- terschied des Angenehmen und Unangenehmen zum Grunde gelegt ist; welches auch um so weniger geschehn durfte, weil Erfahrungen genug vorhanden sind, nach welchen oftmals sogar das Unangenehme begehrt wird. Jetzt aber dürfen wir nicht länger säumen, uns der praktischen Vernunft, unserm eigentlichen Gegenstande, zu nähern; die selbst eine Art von Begehrungsvermögen zu seyn scheint, wenn man sie nicht lieber als eine Re- gel betrachten will, wornach die vorhandenen Begehrun- gen sich richten sollen. Eine Frage, womit die Freunde der Seelenvermögen wohl Ursache haben, sich ernstlich zu beschäfftigen. Denn es ist gar nicht einerley, ob man die praktische Vernunft, als oberes Begehrungsvermögen, noch neben dem niedern hinstellt, so daſs dadurch die Menge der ursprünglichen Begehrungen wachse: oder ob man eine Vernunft annimmt, die selbst nichts begehrt, wohl aber sich auf die vorhandenen Begehrungen bezieht, so daſs für diese eine Regel entsteht, der sie sich unter- werfen müssen. Kant, mit seiner richtigen Behauptung, kein Sittengesetz könne eine Materie des Begehrens an- geben, befand sich eigentlich im zweyten Falle; er ge- rieth aber leider wieder in den ersten hinein, indem er durch den kategorischen Imperativ der Vernunft ein ge- bieterisches Ansehen gab, während er die ästhetischen Urtheile über das Begehren, deren Charakter die höchste Ruhe und Gelassenheit ist, gänzlich verfehlte.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/443>, abgerufen am 01.06.2024.