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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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scheint. Daher wird es als die Grundlage des vernünfti-
gen Wollens betrachtet, dass man seine Kräfte kenne,
und ihnen nicht mehr noch weniger zutraue als sie ver-
mögen. Zuviel übernehmen ist gemeine menschliche Thor-
heit, grosse Unbekanntschaft mit der wirklich vorhande-
nen eigenen Stärke ist thierische Dummheit.

Allein man schreibt der praktischen Vernunft, als
ihr höchstes Eigenthum, noch die sittliche Gesetzge-
bung und Regierung
zu. In diesem Sinne ent-
steht die Vernunft erst aus schon vollbrachtem
Erwägen, Wählen, und Beschliessen
. Denn die
sittlichen Maximen müssen vor allen andern Maximen in
den höchsten Rang erhoben seyn, ehe sie als strenge
Gesetze können verehrt werden; und besitzen sie einmal
diesen Rang, dann fallen sie nicht mehr in die Wahl,
sondern sie treten hinüber in die appercipirenden Vor-
stellungsmassen, ja ihre appercipirende Stellung wird blei-
bend; sie verwandeln sich in die beständigen Beobachter
alles dessen, was sich sonst noch im Bewusstseyn regt.
Dadurch werden sie Charakterzüge der Per-
sönlichkeit, indem sie nun eine veste Verschmel-
zung mit dem Selbstbewusstseyn erlangen, und
dem innern Sinne zu seiner beständigen realen
Grundlage dienen
.

Die Frage, wie die sittlichen Maximen eine solche
Auszeichnung erlangen können, ist gewiss die wich-
tigste der ganzen Psychologie.

Aus dem Interesse für diese Frage wird man, ohne
zu irren, sichs erklären, wenn hie und da mein Bestre
ben, die Unzulässigkeit der transscendentalen Freyheits-
lehre ins Licht zu setzen, sich mit einiger Lebhaftigkeit
äussert. So wie Kant von der Metaphysik sagte, der
Zweck aller ihrer Zurüstungen sey die Erkenntniss von
Gott, der Freyheit, und Unsterblichkeit, (zwar schwer-
lich mit Recht; denn die wissenschaftliche Metaphysik
kann nur durch ein rein theoretisches Interesse zu Stande
gebracht werden; und ihre ersten Anfänge zeigen schon,

scheint. Daher wird es als die Grundlage des vernünfti-
gen Wollens betrachtet, daſs man seine Kräfte kenne,
und ihnen nicht mehr noch weniger zutraue als sie ver-
mögen. Zuviel übernehmen ist gemeine menschliche Thor-
heit, groſse Unbekanntschaft mit der wirklich vorhande-
nen eigenen Stärke ist thierische Dummheit.

Allein man schreibt der praktischen Vernunft, als
ihr höchstes Eigenthum, noch die sittliche Gesetzge-
bung und Regierung
zu. In diesem Sinne ent-
steht die Vernunft erst aus schon vollbrachtem
Erwägen, Wählen, und Beschlieſsen
. Denn die
sittlichen Maximen müssen vor allen andern Maximen in
den höchsten Rang erhoben seyn, ehe sie als strenge
Gesetze können verehrt werden; und besitzen sie einmal
diesen Rang, dann fallen sie nicht mehr in die Wahl,
sondern sie treten hinüber in die appercipirenden Vor-
stellungsmassen, ja ihre appercipirende Stellung wird blei-
bend; sie verwandeln sich in die beständigen Beobachter
alles dessen, was sich sonst noch im Bewuſstseyn regt.
Dadurch werden sie Charakterzüge der Per-
sönlichkeit, indem sie nun eine veste Verschmel-
zung mit dem Selbstbewuſstseyn erlangen, und
dem innern Sinne zu seiner beständigen realen
Grundlage dienen
.

Die Frage, wie die sittlichen Maximen eine solche
Auszeichnung erlangen können, ist gewiſs die wich-
tigste der ganzen Psychologie.

Aus dem Interesse für diese Frage wird man, ohne
zu irren, sichs erklären, wenn hie und da mein Bestre
ben, die Unzulässigkeit der transscendentalen Freyheits-
lehre ins Licht zu setzen, sich mit einiger Lebhaftigkeit
äuſsert. So wie Kant von der Metaphysik sagte, der
Zweck aller ihrer Zurüstungen sey die Erkenntniſs von
Gott, der Freyheit, und Unsterblichkeit, (zwar schwer-
lich mit Recht; denn die wissenschaftliche Metaphysik
kann nur durch ein rein theoretisches Interesse zu Stande
gebracht werden; und ihre ersten Anfänge zeigen schon,

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[420/0455] scheint. Daher wird es als die Grundlage des vernünfti- gen Wollens betrachtet, daſs man seine Kräfte kenne, und ihnen nicht mehr noch weniger zutraue als sie ver- mögen. Zuviel übernehmen ist gemeine menschliche Thor- heit, groſse Unbekanntschaft mit der wirklich vorhande- nen eigenen Stärke ist thierische Dummheit. Allein man schreibt der praktischen Vernunft, als ihr höchstes Eigenthum, noch die sittliche Gesetzge- bung und Regierung zu. In diesem Sinne ent- steht die Vernunft erst aus schon vollbrachtem Erwägen, Wählen, und Beschlieſsen. Denn die sittlichen Maximen müssen vor allen andern Maximen in den höchsten Rang erhoben seyn, ehe sie als strenge Gesetze können verehrt werden; und besitzen sie einmal diesen Rang, dann fallen sie nicht mehr in die Wahl, sondern sie treten hinüber in die appercipirenden Vor- stellungsmassen, ja ihre appercipirende Stellung wird blei- bend; sie verwandeln sich in die beständigen Beobachter alles dessen, was sich sonst noch im Bewuſstseyn regt. Dadurch werden sie Charakterzüge der Per- sönlichkeit, indem sie nun eine veste Verschmel- zung mit dem Selbstbewuſstseyn erlangen, und dem innern Sinne zu seiner beständigen realen Grundlage dienen. Die Frage, wie die sittlichen Maximen eine solche Auszeichnung erlangen können, ist gewiſs die wich- tigste der ganzen Psychologie. Aus dem Interesse für diese Frage wird man, ohne zu irren, sichs erklären, wenn hie und da mein Bestre ben, die Unzulässigkeit der transscendentalen Freyheits- lehre ins Licht zu setzen, sich mit einiger Lebhaftigkeit äuſsert. So wie Kant von der Metaphysik sagte, der Zweck aller ihrer Zurüstungen sey die Erkenntniſs von Gott, der Freyheit, und Unsterblichkeit, (zwar schwer- lich mit Recht; denn die wissenschaftliche Metaphysik kann nur durch ein rein theoretisches Interesse zu Stande gebracht werden; und ihre ersten Anfänge zeigen schon,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/455>, abgerufen am 22.11.2024.