im Gleichgewichte erhalten werden; der Mensch muss unter ihrer Leitung sich in gleichem Maasse duldend er- blicken, als handelnd. Dies ist ein oft übersehenes, aber höchst wesentliches Kriterium einer richtigen praktischen Philosophie. Trifft es nicht zu, so kann sie viel einzel- nes Vortreffliches enthalten, aber sie verdient dann ihren Namen nicht; sie ist nicht praktisch. Denn sie ist als- dann nicht fähig, den Menschen für das Leben in die rechte Stimmung zu versetzen, ihm eine veste Haltung zu geben. Eine bloss anspornende, begeisternde Sitten- lehre schleudert ihn gegen den Felsen der Nothwendig- keit, die theils in seiner eignen, theils in der äussern Natur, und in der Gesellschaft liegt; an diesem Felsen läuft er Gefahr zerschmettert zu werden, ohne darum ei- nen höhern Werth seines Daseyns erreicht zu haben. Dies ist eben so gewiss, als dass im Gegentheil eine schlaffe Sittenlehre, wie jene der Empiriker, deren Au- genmerk Lust und Geniessung ist, oder der Mystiker, welche die Gemächlichkeit einer passiven Hingebung und Contemplation anpreisen, den Menschen um das Bewusst- seyn seiner Thatkraft bringt, und ihn um seine ganze Bestimmung betrügt.
Welcher von diesen beyden Abwegen für die Sit- tenlehre heut zu Tage mehr zu fürchten sey, das ist schwer zu sagen; denn unbekümmert um den heilsamen Nullpunct des reinen Ich, sieht man sie auf jenen bey- den Abwegen zugleich umherirren.
Fichte's Ichlehre war bloss anspornend; die damit verbundene Sittenlehre entwickelte das Kantische Frey- heits-Princip. Es ist merkwürdig, dass Kant selbst, von dem überspannten, rüstig sittlichen Affect, der aus die- sem Princip natürlich entsteht, so wenig spüren lässt. Der Grund davon kann nicht in dem strengen Pflicht- begriff allein enthalten seyn; diesen hatte Fichte mit ihm gemein. Die wahre Ursache davon scheint mir in einem persönlichen Vorurtheil Kants zu liegen, welches mit seinen Lehrsätzen nur lose zusammenhängt; und ge-
im Gleichgewichte erhalten werden; der Mensch muſs unter ihrer Leitung sich in gleichem Maaſse duldend er- blicken, als handelnd. Dies ist ein oft übersehenes, aber höchst wesentliches Kriterium einer richtigen praktischen Philosophie. Trifft es nicht zu, so kann sie viel einzel- nes Vortreffliches enthalten, aber sie verdient dann ihren Namen nicht; sie ist nicht praktisch. Denn sie ist als- dann nicht fähig, den Menschen für das Leben in die rechte Stimmung zu versetzen, ihm eine veste Haltung zu geben. Eine bloſs anspornende, begeisternde Sitten- lehre schleudert ihn gegen den Felsen der Nothwendig- keit, die theils in seiner eignen, theils in der äuſsern Natur, und in der Gesellschaft liegt; an diesem Felsen läuft er Gefahr zerschmettert zu werden, ohne darum ei- nen höhern Werth seines Daseyns erreicht zu haben. Dies ist eben so gewiſs, als daſs im Gegentheil eine schlaffe Sittenlehre, wie jene der Empiriker, deren Au- genmerk Lust und Genieſsung ist, oder der Mystiker, welche die Gemächlichkeit einer passiven Hingebung und Contemplation anpreisen, den Menschen um das Bewuſst- seyn seiner Thatkraft bringt, und ihn um seine ganze Bestimmung betrügt.
Welcher von diesen beyden Abwegen für die Sit- tenlehre heut zu Tage mehr zu fürchten sey, das ist schwer zu sagen; denn unbekümmert um den heilsamen Nullpunct des reinen Ich, sieht man sie auf jenen bey- den Abwegen zugleich umherirren.
Fichte’s Ichlehre war bloſs anspornend; die damit verbundene Sittenlehre entwickelte das Kantische Frey- heits-Princip. Es ist merkwürdig, daſs Kant selbst, von dem überspannten, rüstig sittlichen Affect, der aus die- sem Princip natürlich entsteht, so wenig spüren läſst. Der Grund davon kann nicht in dem strengen Pflicht- begriff allein enthalten seyn; diesen hatte Fichte mit ihm gemein. Die wahre Ursache davon scheint mir in einem persönlichen Vorurtheil Kants zu liegen, welches mit seinen Lehrsätzen nur lose zusammenhängt; und ge-
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im Gleichgewichte erhalten werden; der Mensch muſs
unter ihrer Leitung sich in gleichem Maaſse duldend er-
blicken, als handelnd. Dies ist ein oft übersehenes, aber
höchst wesentliches Kriterium einer richtigen praktischen
Philosophie. Trifft es nicht zu, so kann sie viel einzel-
nes Vortreffliches enthalten, aber sie verdient dann ihren
Namen nicht; sie ist nicht praktisch. Denn sie ist als-
dann nicht fähig, den Menschen für das Leben in die
rechte Stimmung zu versetzen, ihm eine veste Haltung
zu geben. Eine bloſs anspornende, begeisternde Sitten-
lehre schleudert ihn gegen den Felsen der Nothwendig-
keit, die theils in seiner eignen, theils in der äuſsern
Natur, und in der Gesellschaft liegt; an diesem Felsen
läuft er Gefahr zerschmettert zu werden, ohne darum ei-
nen höhern Werth seines Daseyns erreicht zu haben.
Dies ist eben so gewiſs, als daſs im Gegentheil eine
schlaffe Sittenlehre, wie jene der Empiriker, deren Au-
genmerk Lust und Genieſsung ist, oder der Mystiker,
welche die Gemächlichkeit einer passiven Hingebung und
Contemplation anpreisen, den Menschen um das Bewuſst-
seyn seiner Thatkraft bringt, und ihn um seine ganze
Bestimmung betrügt.
Welcher von diesen beyden Abwegen für die Sit-
tenlehre heut zu Tage mehr zu fürchten sey, das ist
schwer zu sagen; denn unbekümmert um den heilsamen
Nullpunct des reinen Ich, sieht man sie auf jenen bey-
den Abwegen zugleich umherirren.
Fichte’s Ichlehre war bloſs anspornend; die damit
verbundene Sittenlehre entwickelte das Kantische Frey-
heits-Princip. Es ist merkwürdig, daſs Kant selbst, von
dem überspannten, rüstig sittlichen Affect, der aus die-
sem Princip natürlich entsteht, so wenig spüren läſst.
Der Grund davon kann nicht in dem strengen Pflicht-
begriff allein enthalten seyn; diesen hatte Fichte mit
ihm gemein. Die wahre Ursache davon scheint mir in
einem persönlichen Vorurtheil Kants zu liegen, welches
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/462>, abgerufen am 22.11.2024.
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