stände, noch durch physiologische Hindernisse, (wie bey trägen Köpfen) noch durch seine eignen Zweckbegriffe (wie bey denen, die frühzeitig sich in der Gesellschaft einen Platz suchen,) abgehalten wird: so giebt es sich der Wirkung jener Kräfte und Gemüthszustände hin; appercipirt seine Träume, und formt sie gemäss der Re- flexionsstufe, auf der es überhaupt steht. Daher tragen die Kunstwerke, von den rohesten bis zu den vollkom- mensten, den Stempel ihrer Zeit, und der Stimmung des Urhebers. Unzählige dieser Werke werden vergessen; um ihnen Dauer, und dem Urheber Aufmunterung zu geben, muss ein Kreis von Zuschauern und Hörern hinzu- kommen. Und jetzt erst fragt es sich, ob die Kunst auch schöne Kunst war? Oder ob aus irgend welchen an- dern Gründen die Empfänglichkeit der Zuhörer die Kunst mit der Gunst beehrte? -- Um uns den Genuss der Kunstwerke nicht zu rauben, sind wir oftmals viel gefäl- liger, als wir selbst merken. Wir bequemen uns nach Griechischer, nach nordischer Mythologie; versetzen uns nach Italien und nach Spanien, um dieses Genusses willen. Manchmal freylich sind wir desto eigensinniger. Darin herrscht viel Willkühr. Man kann sich noch heute in die Stimmung versetzen, die Rousseaus Heloise, und Wielands Agathon erfordern; doch Manchen wird das schwer. Was mich betrifft, so wird mir noch schwerer, was Andern leichter dünkt; ich verhehle z. B. nicht meine Verwunderung, dass noch heute die niedrigen Pantoffeln des Ariost nicht für zu schlüpfrig, die hoch rhetorisch- dialektischen Stelzen des Calderon nicht für zu hals- brechend geachtet werden, um einen vesten Stand auf dem Parnass zu behaupten! *) -- Lieber lese ich, in
*) Nachdem diese Aeusserungen niedergeschrieben worden, fällt es mir auf, dass ein versteckter Vorwurf gegen einen meiner alten Freunde darin zu liegen scheinen könnte, der gerade den beyden ge- nannten Schriftstellern sein ausserordentliches Talent als Uebersetzer zugewendet hat. Aber ich bezweifle eben so wenig Ariosts und Calderons poetische Ader, als ihre historische Merkwürdigkeit, nur
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stände, noch durch physiologische Hindernisse, (wie bey trägen Köpfen) noch durch seine eignen Zweckbegriffe (wie bey denen, die frühzeitig sich in der Gesellschaft einen Platz suchen,) abgehalten wird: so giebt es sich der Wirkung jener Kräfte und Gemüthszustände hin; appercipirt seine Träume, und formt sie gemäſs der Re- flexionsstufe, auf der es überhaupt steht. Daher tragen die Kunstwerke, von den rohesten bis zu den vollkom- mensten, den Stempel ihrer Zeit, und der Stimmung des Urhebers. Unzählige dieser Werke werden vergessen; um ihnen Dauer, und dem Urheber Aufmunterung zu geben, muſs ein Kreis von Zuschauern und Hörern hinzu- kommen. Und jetzt erst fragt es sich, ob die Kunst auch schöne Kunst war? Oder ob aus irgend welchen an- dern Gründen die Empfänglichkeit der Zuhörer die Kunst mit der Gunst beehrte? — Um uns den Genuſs der Kunstwerke nicht zu rauben, sind wir oftmals viel gefäl- liger, als wir selbst merken. Wir bequemen uns nach Griechischer, nach nordischer Mythologie; versetzen uns nach Italien und nach Spanien, um dieses Genusses willen. Manchmal freylich sind wir desto eigensinniger. Darin herrscht viel Willkühr. Man kann sich noch heute in die Stimmung versetzen, die Rousseaus Heloise, und Wielands Agathon erfordern; doch Manchen wird das schwer. Was mich betrifft, so wird mir noch schwerer, was Andern leichter dünkt; ich verhehle z. B. nicht meine Verwunderung, daſs noch heute die niedrigen Pantoffeln des Ariost nicht für zu schlüpfrig, die hoch rhetorisch- dialektischen Stelzen des Calderon nicht für zu hals- brechend geachtet werden, um einen vesten Stand auf dem Parnaſs zu behaupten! *) — Lieber lese ich, in
*) Nachdem diese Aeuſserungen niedergeschrieben worden, fällt es mir auf, daſs ein versteckter Vorwurf gegen einen meiner alten Freunde darin zu liegen scheinen könnte, der gerade den beyden ge- nannten Schriftstellern sein auſserordentliches Talent als Uebersetzer zugewendet hat. Aber ich bezweifle eben so wenig Ariosts und Calderons poëtische Ader, als ihre historische Merkwürdigkeit, nur
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stände, noch durch physiologische Hindernisse, (wie bey
trägen Köpfen) noch durch seine eignen Zweckbegriffe
(wie bey denen, die frühzeitig sich in der Gesellschaft
einen Platz suchen,) abgehalten wird: so giebt es sich
der Wirkung jener Kräfte und Gemüthszustände hin;
appercipirt seine Träume, und formt sie gemäſs der Re-
flexionsstufe, auf der es überhaupt steht. Daher tragen
die Kunstwerke, von den rohesten bis zu den vollkom-
mensten, den Stempel ihrer Zeit, und der Stimmung des
Urhebers. Unzählige dieser Werke werden vergessen;
um ihnen Dauer, und dem Urheber Aufmunterung zu
geben, muſs ein Kreis von Zuschauern und Hörern hinzu-
kommen. Und jetzt erst fragt es sich, ob die Kunst auch
schöne Kunst war? Oder ob aus irgend welchen an-
dern Gründen die Empfänglichkeit der Zuhörer die Kunst
mit der Gunst beehrte? — Um uns den Genuſs der
Kunstwerke nicht zu rauben, sind wir oftmals viel gefäl-
liger, als wir selbst merken. Wir bequemen uns nach
Griechischer, nach nordischer Mythologie; versetzen uns
nach Italien und nach Spanien, um dieses Genusses
willen. Manchmal freylich sind wir desto eigensinniger.
Darin herrscht viel Willkühr. Man kann sich noch heute
in die Stimmung versetzen, die Rousseaus Heloise, und
Wielands Agathon erfordern; doch Manchen wird das
schwer. Was mich betrifft, so wird mir noch schwerer,
was Andern leichter dünkt; ich verhehle z. B. nicht meine
Verwunderung, daſs noch heute die niedrigen Pantoffeln
des Ariost nicht für zu schlüpfrig, die hoch rhetorisch-
dialektischen Stelzen des Calderon nicht für zu hals-
brechend geachtet werden, um einen vesten Stand auf
dem Parnaſs zu behaupten! *) — Lieber lese ich, in
*) Nachdem diese Aeuſserungen niedergeschrieben worden, fällt
es mir auf, daſs ein versteckter Vorwurf gegen einen meiner alten
Freunde darin zu liegen scheinen könnte, der gerade den beyden ge-
nannten Schriftstellern sein auſserordentliches Talent als Uebersetzer
zugewendet hat. Aber ich bezweifle eben so wenig Ariosts und
Calderons poëtische Ader, als ihre historische Merkwürdigkeit, nur
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/470>, abgerufen am 22.11.2024.
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