verlornen Sachen der Erde. Oder, dass ich ein besser passendes Gleichniss gebrauche, -- wie eine Apotheke. Denn dort findet sich das Gesuchte in einer Flasche, in der Form eines feinen Liquors; auch ist die rechte Flasche, wiewohl in der Mitte anderer, leicht zu unter- scheiden; nicht allein durch ihre besondere Grösse, son- dern auch durch die Aufschrift:
"Rolands Verstand, war draussen angeschrieben."
Die poetische Ehre dieses jämmerlich eingesperrten Verstandes, -- der gar keine Erfindungskraft, ja nicht einmal so viel Spannkraft zu besitzen scheint, wie ein brausendes Bier, das den Stöpsel abwirft, und davon fliegt, -- möchte bald eben so schwer zu retten seyn, als die Ehre der unsaubern Jungfrau Fiametta, mit welcher auch nur die flüchtigste Bekanntschaft gemacht zu haben sich wohl Jedermann zur Schande rechnen würde, wäre es nicht Ariost, dessen berühmter Name dahin verleitete. -- Doch Rolands Verstand ist nun gefunden; zu welchem Zwecke? Soll wirklich aus Ver- stand und Gehirn wieder ein Kopf werden? Dass aus dem Spiritus und dem Phlegma der zerlegte Wein sich nimmermehr wieder zusammensetzen lässt, musste doch ohne Zweifel schon zu Ariosts Zeiten, auch ohne neuere Chemie vollkommen bekannt seyn. Warum vertheilt der Dichter nicht lieber den köstlichen Liquor unter seine übrigen Helden und Heldinnen, da sie doch sämmtlich nicht überflüssig damit scheinen versehen zu seyn? -- Der Ausweg aus dieser, und vielen andern schwierigen Fragen, steht offen; und ich will ihn zeigen. Man muss die ganze Erzählung, als einen Mythos, mystisch und symbolisch deuten. Ariost, als Seher, erblickte eine künftige Gefahr für die Seelenvermögen. Durch die Fla- sche, worin der Verstand eines Mannes, mit allen zwölf Kategorien, Platz hat, deutet er auf die grossen Krater des Mondes, und auf dessen trockene Meere. Nun ist klar, dass, wenn einmal die Seelenvermögen der sämmt-
verlornen Sachen der Erde. Oder, daſs ich ein besser passendes Gleichniſs gebrauche, — wie eine Apotheke. Denn dort findet sich das Gesuchte in einer Flasche, in der Form eines feinen Liquors; auch ist die rechte Flasche, wiewohl in der Mitte anderer, leicht zu unter- scheiden; nicht allein durch ihre besondere Gröſse, son- dern auch durch die Aufschrift:
„Rolands Verstand, war drauſsen angeschrieben.“
Die poëtische Ehre dieses jämmerlich eingesperrten Verstandes, — der gar keine Erfindungskraft, ja nicht einmal so viel Spannkraft zu besitzen scheint, wie ein brausendes Bier, das den Stöpsel abwirft, und davon fliegt, — möchte bald eben so schwer zu retten seyn, als die Ehre der unsaubern Jungfrau Fiametta, mit welcher auch nur die flüchtigste Bekanntschaft gemacht zu haben sich wohl Jedermann zur Schande rechnen würde, wäre es nicht Ariost, dessen berühmter Name dahin verleitete. — Doch Rolands Verstand ist nun gefunden; zu welchem Zwecke? Soll wirklich aus Ver- stand und Gehirn wieder ein Kopf werden? Daſs aus dem Spiritus und dem Phlegma der zerlegte Wein sich nimmermehr wieder zusammensetzen läſst, muſste doch ohne Zweifel schon zu Ariosts Zeiten, auch ohne neuere Chemie vollkommen bekannt seyn. Warum vertheilt der Dichter nicht lieber den köstlichen Liquor unter seine übrigen Helden und Heldinnen, da sie doch sämmtlich nicht überflüssig damit scheinen versehen zu seyn? — Der Ausweg aus dieser, und vielen andern schwierigen Fragen, steht offen; und ich will ihn zeigen. Man muſs die ganze Erzählung, als einen Mythos, mystisch und symbolisch deuten. Ariost, als Seher, erblickte eine künftige Gefahr für die Seelenvermögen. Durch die Fla- sche, worin der Verstand eines Mannes, mit allen zwölf Kategorien, Platz hat, deutet er auf die groſsen Krater des Mondes, und auf dessen trockene Meere. Nun ist klar, daſs, wenn einmal die Seelenvermögen der sämmt-
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verlornen Sachen der Erde. Oder, daſs ich ein besser
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Denn dort findet sich das Gesuchte in einer Flasche, in
der Form eines feinen Liquors; auch ist die rechte
Flasche, wiewohl in der Mitte anderer, leicht zu unter-
scheiden; nicht allein durch ihre besondere Gröſse, son-
dern auch durch die Aufschrift:
„Rolands Verstand, war drauſsen angeschrieben.“
Die poëtische Ehre dieses jämmerlich eingesperrten
Verstandes, — der gar keine Erfindungskraft, ja nicht
einmal so viel Spannkraft zu besitzen scheint, wie ein
brausendes Bier, das den Stöpsel abwirft, und davon
fliegt, — möchte bald eben so schwer zu retten seyn,
als die Ehre der unsaubern Jungfrau Fiametta, mit
welcher auch nur die flüchtigste Bekanntschaft gemacht
zu haben sich wohl Jedermann zur Schande rechnen
würde, wäre es nicht Ariost, dessen berühmter Name
dahin verleitete. — Doch Rolands Verstand ist nun
gefunden; zu welchem Zwecke? Soll wirklich aus Ver-
stand und Gehirn wieder ein Kopf werden? Daſs aus
dem Spiritus und dem Phlegma der zerlegte Wein sich
nimmermehr wieder zusammensetzen läſst, muſste doch ohne
Zweifel schon zu Ariosts Zeiten, auch ohne neuere
Chemie vollkommen bekannt seyn. Warum vertheilt der
Dichter nicht lieber den köstlichen Liquor unter seine
übrigen Helden und Heldinnen, da sie doch sämmtlich
nicht überflüssig damit scheinen versehen zu seyn? —
Der Ausweg aus dieser, und vielen andern schwierigen
Fragen, steht offen; und ich will ihn zeigen. Man muſs
die ganze Erzählung, als einen Mythos, mystisch und
symbolisch deuten. Ariost, als Seher, erblickte eine
künftige Gefahr für die Seelenvermögen. Durch die Fla-
sche, worin der Verstand eines Mannes, mit allen zwölf
Kategorien, Platz hat, deutet er auf die groſsen Krater
des Mondes, und auf dessen trockene Meere. Nun ist
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/472>, abgerufen am 22.11.2024.
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