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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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worin der Dichter seine handelnden und leidenden Per-
sonen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung erscheinen
lässt: so wird das Ergötzliche bunter Erzählungen sogleich
begreiflich seyn. Wer sich ihnen hingiebt, der wird fort-
gerissen; er geräth in einen angenehmen Taumel, ja in
eine wahre Berauschung. Dabey kann von einem ästhe-
tischen Urtheile gar nicht die Rede seyn, denn dies setzt,
für alle Arten des Schönen und Guten, zu allererst eine
bestimmte Auffassung vester Umrisse und Rhythmen,
vollendetes Vorstellen gegebener Verhältnisse
voraus. Damit es eintrete, muss das Ganze, als ein Ge-
schlossenes, überschaut seyn, und das Ergötzen, dieser
schwebende, wandelbare Gemüthszustand, muss aufgehört
haben. Bleibt in dem Urtheile etwas von seinem Ein-
flusse zurück: so ist der Geschmack eben sowohl besto-
chen, als nach den thränenreichen Rührspielen; und es
kommt dabey nur auf den Unterschied an, wie leicht
und willig sich das Individuum dem Ergötzen oder der
Rührung hingiebt; die Verfälschung des Geschmacks, der
nun kein objectives Urtheil mehr fällen kann, ist hier wie
dort gleich gross; und über einen so bestochenen Ge-
schmack lässt sich nicht disputiren; es sey denn, dass Je-
mand sich zu Auctoritäten herablasse.

Das ächte ästhetische Urtheil erfordert eine Stetig-
keit des Blicks, eine gleich gehaltene Klarheit des Gei-
stes, die den wenigsten Menschen so natürlich ist, dass
sie lange bestehn könnte ohne absichtliche, von den
herrschenden, appercipirenden Vorstellungsmassen aus-
gehende Anstrengung. Ein ungeordneter Geist ist der-
selben kaum fähig; auch in dem wohlgeordneten verur-
sacht sie auf die Länge eine Spannung, nach welcher
Erhohlung eintreten muss. Denn alle Aufregung irgend
welcher Vorstellungsreihen gelangt nach einiger Zeit zu
einem Maximum; sie bildet gleichsam eine Fluth, worauf
Ebbe erfolgen muss. Dass die Fluth stets dauere, darf
man nicht fordern; vielmehr muss man sie nutzen, so

worin der Dichter seine handelnden und leidenden Per-
sonen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung erscheinen
läſst: so wird das Ergötzliche bunter Erzählungen sogleich
begreiflich seyn. Wer sich ihnen hingiebt, der wird fort-
gerissen; er geräth in einen angenehmen Taumel, ja in
eine wahre Berauschung. Dabey kann von einem ästhe-
tischen Urtheile gar nicht die Rede seyn, denn dies setzt,
für alle Arten des Schönen und Guten, zu allererst eine
bestimmte Auffassung vester Umrisse und Rhythmen,
vollendetes Vorstellen gegebener Verhältnisse
voraus. Damit es eintrete, muſs das Ganze, als ein Ge-
schlossenes, überschaut seyn, und das Ergötzen, dieser
schwebende, wandelbare Gemüthszustand, muſs aufgehört
haben. Bleibt in dem Urtheile etwas von seinem Ein-
flusse zurück: so ist der Geschmack eben sowohl besto-
chen, als nach den thränenreichen Rührspielen; und es
kommt dabey nur auf den Unterschied an, wie leicht
und willig sich das Individuum dem Ergötzen oder der
Rührung hingiebt; die Verfälschung des Geschmacks, der
nun kein objectives Urtheil mehr fällen kann, ist hier wie
dort gleich groſs; und über einen so bestochenen Ge-
schmack läſst sich nicht disputiren; es sey denn, daſs Je-
mand sich zu Auctoritäten herablasse.

Das ächte ästhetische Urtheil erfordert eine Stetig-
keit des Blicks, eine gleich gehaltene Klarheit des Gei-
stes, die den wenigsten Menschen so natürlich ist, daſs
sie lange bestehn könnte ohne absichtliche, von den
herrschenden, appercipirenden Vorstellungsmassen aus-
gehende Anstrengung. Ein ungeordneter Geist ist der-
selben kaum fähig; auch in dem wohlgeordneten verur-
sacht sie auf die Länge eine Spannung, nach welcher
Erhohlung eintreten muſs. Denn alle Aufregung irgend
welcher Vorstellungsreihen gelangt nach einiger Zeit zu
einem Maximum; sie bildet gleichsam eine Fluth, worauf
Ebbe erfolgen muſs. Daſs die Fluth stets dauere, darf
man nicht fordern; vielmehr muſs man sie nutzen, so

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[440/0475] worin der Dichter seine handelnden und leidenden Per- sonen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung erscheinen läſst: so wird das Ergötzliche bunter Erzählungen sogleich begreiflich seyn. Wer sich ihnen hingiebt, der wird fort- gerissen; er geräth in einen angenehmen Taumel, ja in eine wahre Berauschung. Dabey kann von einem ästhe- tischen Urtheile gar nicht die Rede seyn, denn dies setzt, für alle Arten des Schönen und Guten, zu allererst eine bestimmte Auffassung vester Umrisse und Rhythmen, vollendetes Vorstellen gegebener Verhältnisse voraus. Damit es eintrete, muſs das Ganze, als ein Ge- schlossenes, überschaut seyn, und das Ergötzen, dieser schwebende, wandelbare Gemüthszustand, muſs aufgehört haben. Bleibt in dem Urtheile etwas von seinem Ein- flusse zurück: so ist der Geschmack eben sowohl besto- chen, als nach den thränenreichen Rührspielen; und es kommt dabey nur auf den Unterschied an, wie leicht und willig sich das Individuum dem Ergötzen oder der Rührung hingiebt; die Verfälschung des Geschmacks, der nun kein objectives Urtheil mehr fällen kann, ist hier wie dort gleich groſs; und über einen so bestochenen Ge- schmack läſst sich nicht disputiren; es sey denn, daſs Je- mand sich zu Auctoritäten herablasse. Das ächte ästhetische Urtheil erfordert eine Stetig- keit des Blicks, eine gleich gehaltene Klarheit des Gei- stes, die den wenigsten Menschen so natürlich ist, daſs sie lange bestehn könnte ohne absichtliche, von den herrschenden, appercipirenden Vorstellungsmassen aus- gehende Anstrengung. Ein ungeordneter Geist ist der- selben kaum fähig; auch in dem wohlgeordneten verur- sacht sie auf die Länge eine Spannung, nach welcher Erhohlung eintreten muſs. Denn alle Aufregung irgend welcher Vorstellungsreihen gelangt nach einiger Zeit zu einem Maximum; sie bildet gleichsam eine Fluth, worauf Ebbe erfolgen muſs. Daſs die Fluth stets dauere, darf man nicht fordern; vielmehr muſs man sie nutzen, so

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/475>, abgerufen am 22.11.2024.