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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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viel Mühe die Gesellschaft hat, sich zu einer vesten Ord-
nung zu erheben. Und dies geschieht Anfangs nur in
einzelnen Ortschaften. Darin gilt das Recht nebst der
Aufrichtigkeit; nach aussen bedienen sie sich des Un-
rechts als einer natürlichen Bewaffnung. Dies Unheil
zeigt sich oft wiederkehrend auch noch im gebildeten Zu-
stande; kleine Kreise sondern sich ab, verbergen sich,
setzen List der äussern Gewalt entgegen, wenn man sie
nicht bereden kann, sich der grössern Gesellschaft an-
zuschliessen.

Nach allem Vorstehenden beginnt und wächst das
Böse in der Zeit. Ist es darum nur auf der Oberfläche
der Sinnenwelt anzutreffen? Hat es keine versteckten
Wurzeln, aus denen es, dem Scheine nach schon aus-
gerottet, dennoch wieder hervorsprosst? Lässt es keine
Kränklichkeit nach, wenn die Heilung gelang? Braucht
der Gesunde nicht die Möglichkeit zu fürchten und ver-
hüten, dass es ihn von Aussen ergreife, oder von Innen
zerrütte? -- Kaum wird der Leser noch so fragen. Das
Gewebe der Vorstellungsreihen bleibt in seinen Falten,
wenn man es schon im Bewusstseyn nicht wahrnimmt;
und von den hemmenden Kräften, durch die man seiner
falschen Spannung entgegenwirkt, wird selbst im besten
Falle ein Theil gebunden, und seiner freyen Thätigkeit
beraubt.

Um dies besser zu übersehen, darf man sich nur
den wirklichen Menschen, im Gegensatze eines poetischen
Charakters, lebhafter vergegenwärtigen. Die Personen
der Dichter nähern sich den geometrischen Figuren; ihre
Consequenz ist ihr Verdienst, denn sie können nur da-
durch deutliche Verhältnisse bilden, worin ihr Kunstwerth
bestehn muss. Daher begabt der Dichter sein Geschöpf
mit einer oder zwey herrschenden Vorstellungsmassen,
woraus sich alles Wollen und Handeln desselben ent-
wickeln muss, ohne dass in diesen Vorstellungsmassen
eine bedeutende Veränderung zugelassen werden dürfte.
Hingegen in dem wirklichen Menschen ist die Mannigfaltig-

viel Mühe die Gesellschaft hat, sich zu einer vesten Ord-
nung zu erheben. Und dies geschieht Anfangs nur in
einzelnen Ortschaften. Darin gilt das Recht nebst der
Aufrichtigkeit; nach auſsen bedienen sie sich des Un-
rechts als einer natürlichen Bewaffnung. Dies Unheil
zeigt sich oft wiederkehrend auch noch im gebildeten Zu-
stande; kleine Kreise sondern sich ab, verbergen sich,
setzen List der äuſsern Gewalt entgegen, wenn man sie
nicht bereden kann, sich der gröſsern Gesellschaft an-
zuschlieſsen.

Nach allem Vorstehenden beginnt und wächst das
Böse in der Zeit. Ist es darum nur auf der Oberfläche
der Sinnenwelt anzutreffen? Hat es keine versteckten
Wurzeln, aus denen es, dem Scheine nach schon aus-
gerottet, dennoch wieder hervorsproſst? Läſst es keine
Kränklichkeit nach, wenn die Heilung gelang? Braucht
der Gesunde nicht die Möglichkeit zu fürchten und ver-
hüten, daſs es ihn von Auſsen ergreife, oder von Innen
zerrütte? — Kaum wird der Leser noch so fragen. Das
Gewebe der Vorstellungsreihen bleibt in seinen Falten,
wenn man es schon im Bewuſstseyn nicht wahrnimmt;
und von den hemmenden Kräften, durch die man seiner
falschen Spannung entgegenwirkt, wird selbst im besten
Falle ein Theil gebunden, und seiner freyen Thätigkeit
beraubt.

Um dies besser zu übersehen, darf man sich nur
den wirklichen Menschen, im Gegensatze eines poëtischen
Charakters, lebhafter vergegenwärtigen. Die Personen
der Dichter nähern sich den geometrischen Figuren; ihre
Consequenz ist ihr Verdienst, denn sie können nur da-
durch deutliche Verhältnisse bilden, worin ihr Kunstwerth
bestehn muſs. Daher begabt der Dichter sein Geschöpf
mit einer oder zwey herrschenden Vorstellungsmassen,
woraus sich alles Wollen und Handeln desselben ent-
wickeln muſs, ohne daſs in diesen Vorstellungsmassen
eine bedeutende Veränderung zugelassen werden dürfte.
Hingegen in dem wirklichen Menschen ist die Mannigfaltig-

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[446/0481] viel Mühe die Gesellschaft hat, sich zu einer vesten Ord- nung zu erheben. Und dies geschieht Anfangs nur in einzelnen Ortschaften. Darin gilt das Recht nebst der Aufrichtigkeit; nach auſsen bedienen sie sich des Un- rechts als einer natürlichen Bewaffnung. Dies Unheil zeigt sich oft wiederkehrend auch noch im gebildeten Zu- stande; kleine Kreise sondern sich ab, verbergen sich, setzen List der äuſsern Gewalt entgegen, wenn man sie nicht bereden kann, sich der gröſsern Gesellschaft an- zuschlieſsen. Nach allem Vorstehenden beginnt und wächst das Böse in der Zeit. Ist es darum nur auf der Oberfläche der Sinnenwelt anzutreffen? Hat es keine versteckten Wurzeln, aus denen es, dem Scheine nach schon aus- gerottet, dennoch wieder hervorsproſst? Läſst es keine Kränklichkeit nach, wenn die Heilung gelang? Braucht der Gesunde nicht die Möglichkeit zu fürchten und ver- hüten, daſs es ihn von Auſsen ergreife, oder von Innen zerrütte? — Kaum wird der Leser noch so fragen. Das Gewebe der Vorstellungsreihen bleibt in seinen Falten, wenn man es schon im Bewuſstseyn nicht wahrnimmt; und von den hemmenden Kräften, durch die man seiner falschen Spannung entgegenwirkt, wird selbst im besten Falle ein Theil gebunden, und seiner freyen Thätigkeit beraubt. Um dies besser zu übersehen, darf man sich nur den wirklichen Menschen, im Gegensatze eines poëtischen Charakters, lebhafter vergegenwärtigen. Die Personen der Dichter nähern sich den geometrischen Figuren; ihre Consequenz ist ihr Verdienst, denn sie können nur da- durch deutliche Verhältnisse bilden, worin ihr Kunstwerth bestehn muſs. Daher begabt der Dichter sein Geschöpf mit einer oder zwey herrschenden Vorstellungsmassen, woraus sich alles Wollen und Handeln desselben ent- wickeln muſs, ohne daſs in diesen Vorstellungsmassen eine bedeutende Veränderung zugelassen werden dürfte. Hingegen in dem wirklichen Menschen ist die Mannigfaltig-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/481>, abgerufen am 22.11.2024.