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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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zwar bey gesunder Metaphysik, folgen, als was diejeni-
gen wollen, die neuerlich der Zersplitterung der Seele
durch alle Theile des Körpers das Wort geredet haben.
Nämlich die Abhängigkeit der Seele vom Körper würde
so gross seyn, dass eine Psychologie ohne Physiologie
ganz vergeblich wäre, und dass alle Phänomene des Be-
wusstseyns nichts als Aeusserungen des gesammten Orga-
nismus werden müssten.

Um diese Vorstellungsart würdigen zu können, müs-
sen wir sie ein wenig weiter ausführen. Die Meinung
ist also, dass ein ähnlicher, innerer Mechanismus unter
den Selbsterhaltungen, die in den einzelnen Elementen
des Gehirns und der Nerven statt gefunden, und sich
angehäuft haben, in jedem solchen Elemente ungefähr
auf dieselbe Weise thätig sey, wie in der Seele; und
dass die Mechanik des Geistes darum unendlich verwickelt
ausfalle, weil der Geist nicht von sich selbst allein ab-
hange, sondern es nur eine Gesammt-Mechanik für alle,
sich gegenseitig bestimmende Theile des Systems geben
könne. So blieben also die Auffassungen der Farben
nicht bloss in der Seele, sondern auch in den Sehener-
ven, nach der Wahrnehmung zurück; desgleichen die
Auffassungen der Töne in den Gehörnerven; und so fort;
bey neu hinzukommenden Farben und Tönen aber gäbe
es Reminiscenzen und Reproductionen in den Elementen
der Nerven gerade wie in der Seele; ja es besässen
selbst jene Elemente das, was man Phantasie und Ge-
dächtniss nennt, dergestalt, dass auch unabhängig von
neuen äussern Eindrücken, das früherhin aufgefasste in
ihnen lebendig wäre; und dass hiedurch die Lebendigkeit
der Phantasie und des Gedächtnisses in der Seele un-
endlich erhöht würde. -- Und hier hätten wir denn ohne
Schwierigkeit die oft angenommenen vestigia rerum,
die freylich nicht materielle Ideen zu seyn brauchen,
von denen Reil fragt, wo sie Platz genug haben in dem
Gehirne eines Polyglotten-Schreibers?*) Platz brauchen

*) Reils Rhapsodieen S. 116.

zwar bey gesunder Metaphysik, folgen, als was diejeni-
gen wollen, die neuerlich der Zersplitterung der Seele
durch alle Theile des Körpers das Wort geredet haben.
Nämlich die Abhängigkeit der Seele vom Körper würde
so groſs seyn, daſs eine Psychologie ohne Physiologie
ganz vergeblich wäre, und daſs alle Phänomene des Be-
wuſstseyns nichts als Aeuſserungen des gesammten Orga-
nismus werden müſsten.

Um diese Vorstellungsart würdigen zu können, müs-
sen wir sie ein wenig weiter ausführen. Die Meinung
ist also, daſs ein ähnlicher, innerer Mechanismus unter
den Selbsterhaltungen, die in den einzelnen Elementen
des Gehirns und der Nerven statt gefunden, und sich
angehäuft haben, in jedem solchen Elemente ungefähr
auf dieselbe Weise thätig sey, wie in der Seele; und
daſs die Mechanik des Geistes darum unendlich verwickelt
ausfalle, weil der Geist nicht von sich selbst allein ab-
hange, sondern es nur eine Gesammt-Mechanik für alle,
sich gegenseitig bestimmende Theile des Systems geben
könne. So blieben also die Auffassungen der Farben
nicht bloſs in der Seele, sondern auch in den Sehener-
ven, nach der Wahrnehmung zurück; desgleichen die
Auffassungen der Töne in den Gehörnerven; und so fort;
bey neu hinzukommenden Farben und Tönen aber gäbe
es Reminiscenzen und Reproductionen in den Elementen
der Nerven gerade wie in der Seele; ja es besäſsen
selbst jene Elemente das, was man Phantasie und Ge-
dächtniſs nennt, dergestalt, daſs auch unabhängig von
neuen äuſsern Eindrücken, das früherhin aufgefaſste in
ihnen lebendig wäre; und daſs hiedurch die Lebendigkeit
der Phantasie und des Gedächtnisses in der Seele un-
endlich erhöht würde. — Und hier hätten wir denn ohne
Schwierigkeit die oft angenommenen veſtigia rerum,
die freylich nicht materielle Ideen zu seyn brauchen,
von denen Reil fragt, wo sie Platz genug haben in dem
Gehirne eines Polyglotten-Schreibers?*) Platz brauchen

*) Reils Rhapsodieen S. 116.
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[476/0511] zwar bey gesunder Metaphysik, folgen, als was diejeni- gen wollen, die neuerlich der Zersplitterung der Seele durch alle Theile des Körpers das Wort geredet haben. Nämlich die Abhängigkeit der Seele vom Körper würde so groſs seyn, daſs eine Psychologie ohne Physiologie ganz vergeblich wäre, und daſs alle Phänomene des Be- wuſstseyns nichts als Aeuſserungen des gesammten Orga- nismus werden müſsten. Um diese Vorstellungsart würdigen zu können, müs- sen wir sie ein wenig weiter ausführen. Die Meinung ist also, daſs ein ähnlicher, innerer Mechanismus unter den Selbsterhaltungen, die in den einzelnen Elementen des Gehirns und der Nerven statt gefunden, und sich angehäuft haben, in jedem solchen Elemente ungefähr auf dieselbe Weise thätig sey, wie in der Seele; und daſs die Mechanik des Geistes darum unendlich verwickelt ausfalle, weil der Geist nicht von sich selbst allein ab- hange, sondern es nur eine Gesammt-Mechanik für alle, sich gegenseitig bestimmende Theile des Systems geben könne. So blieben also die Auffassungen der Farben nicht bloſs in der Seele, sondern auch in den Sehener- ven, nach der Wahrnehmung zurück; desgleichen die Auffassungen der Töne in den Gehörnerven; und so fort; bey neu hinzukommenden Farben und Tönen aber gäbe es Reminiscenzen und Reproductionen in den Elementen der Nerven gerade wie in der Seele; ja es besäſsen selbst jene Elemente das, was man Phantasie und Ge- dächtniſs nennt, dergestalt, daſs auch unabhängig von neuen äuſsern Eindrücken, das früherhin aufgefaſste in ihnen lebendig wäre; und daſs hiedurch die Lebendigkeit der Phantasie und des Gedächtnisses in der Seele un- endlich erhöht würde. — Und hier hätten wir denn ohne Schwierigkeit die oft angenommenen veſtigia rerum, die freylich nicht materielle Ideen zu seyn brauchen, von denen Reil fragt, wo sie Platz genug haben in dem Gehirne eines Polyglotten-Schreibers? *) Platz brauchen *) Reils Rhapsodieen S. 116.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/511>, abgerufen am 25.11.2024.