sich erhöbe. Das Thier würde keinesweges auf die Em- pfindungen des Augenblicks beschränkt seyn; es würde vielmehr in jedem Zeitpuncte den Gewinn seines ganzen bisherigen Lebens vortrefflich beysammen haben, wenn in allen Theilen der Nerven die frühern Zustände sich gleich wiedererweckten Vorstellungen regen, und dadurch die Seele in der Wieder-Erinnerung unterstützen könn- ten. -- Es würden aber auch endlich die Bewegungs- nerven ähnliche Kräfte gelten machen. Sie würden die einmal gelernten Fertigkeiten aus eignem Triebe und Ein- falle weiter üben; und da sie bey ihren Muskeln die nächsten sind, so möchten die übrigen Theile des Sy- stems Mühe haben ihnen Einhalt zu thun. Der Mensch würde also, wie in beständig eingebildeten Wahrneh- mungen, so in beständigen Krämpfen liegen; und die Seele würde sich in ihrem Nervensystem in dem nämli- chen unglücklichen Zustande befinden, wie ein schwacher König in seinem Staate, der von Allem leidet und nichts vollbringen kann.
Man sicht, dass diese Ansicht zu etwas zu gebrau- chen ist, nämlich zur Erklärung psychischen Leidens, wie es in Fiebern und im Delirium vorkommt. Nimmer- mehr aber schickt sich so etwas zum gesunden Zustande, worin der Geist eine zweckmässige Thätigkeit ausübt. Der Musiker sieht nicht, sondern er hört; der Maler hört nicht, sondern er sieht; der Algebraist sieht nur so viel, als er braucht um seine Gedanken an sinnliche Zeichen zu heften; und jeder tüchtige Arbeiter endlich bewegt nur diejenigen Glieder, welche der Begriff der Arbeit und die dahin gehörigen Vorschriften bewegt wissen wol- len. So ist im gesunden Zustande das Nervensystem weit mehr passive Maschine, als irgend eins von denjenigen Organen, welche nach ihren eignen Gesetzen die ihnen zukommenden Lebensfunctionen verrichten. Das Nervensystem allein, lässt sich bald in diesem bald in jenem seiner Theile eine Thätigkeit gefallen, deren Princip nicht in ihm liegt; und wofür der Einheitspunct,
sich erhöbe. Das Thier würde keinesweges auf die Em- pfindungen des Augenblicks beschränkt seyn; es würde vielmehr in jedem Zeitpuncte den Gewinn seines ganzen bisherigen Lebens vortrefflich beysammen haben, wenn in allen Theilen der Nerven die frühern Zustände sich gleich wiedererweckten Vorstellungen regen, und dadurch die Seele in der Wieder-Erinnerung unterstützen könn- ten. — Es würden aber auch endlich die Bewegungs- nerven ähnliche Kräfte gelten machen. Sie würden die einmal gelernten Fertigkeiten aus eignem Triebe und Ein- falle weiter üben; und da sie bey ihren Muskeln die nächsten sind, so möchten die übrigen Theile des Sy- stems Mühe haben ihnen Einhalt zu thun. Der Mensch würde also, wie in beständig eingebildeten Wahrneh- mungen, so in beständigen Krämpfen liegen; und die Seele würde sich in ihrem Nervensystem in dem nämli- chen unglücklichen Zustande befinden, wie ein schwacher König in seinem Staate, der von Allem leidet und nichts vollbringen kann.
Man sicht, daſs diese Ansicht zu etwas zu gebrau- chen ist, nämlich zur Erklärung psychischen Leidens, wie es in Fiebern und im Delirium vorkommt. Nimmer- mehr aber schickt sich so etwas zum gesunden Zustande, worin der Geist eine zweckmäſsige Thätigkeit ausübt. Der Musiker sieht nicht, sondern er hört; der Maler hört nicht, sondern er sieht; der Algebraist sieht nur so viel, als er braucht um seine Gedanken an sinnliche Zeichen zu heften; und jeder tüchtige Arbeiter endlich bewegt nur diejenigen Glieder, welche der Begriff der Arbeit und die dahin gehörigen Vorschriften bewegt wissen wol- len. So ist im gesunden Zustande das Nervensystem weit mehr passive Maschine, als irgend eins von denjenigen Organen, welche nach ihren eignen Gesetzen die ihnen zukommenden Lebensfunctionen verrichten. Das Nervensystem allein, läſst sich bald in diesem bald in jenem seiner Theile eine Thätigkeit gefallen, deren Princip nicht in ihm liegt; und wofür der Einheitspunct,
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sich erhöbe. Das Thier würde keinesweges auf die Em-
pfindungen des Augenblicks beschränkt seyn; es würde
vielmehr in jedem Zeitpuncte den Gewinn seines ganzen
bisherigen Lebens vortrefflich beysammen haben, wenn
in allen Theilen der Nerven die frühern Zustände sich
gleich wiedererweckten Vorstellungen regen, und dadurch
die Seele in der Wieder-Erinnerung unterstützen könn-
ten. — Es würden aber auch endlich die Bewegungs-
nerven ähnliche Kräfte gelten machen. Sie würden die
einmal gelernten Fertigkeiten aus eignem Triebe und Ein-
falle weiter üben; und da sie bey ihren Muskeln die
nächsten sind, so möchten die übrigen Theile des Sy-
stems Mühe haben ihnen Einhalt zu thun. Der Mensch
würde also, wie in beständig eingebildeten Wahrneh-
mungen, so in beständigen Krämpfen liegen; und die
Seele würde sich in ihrem Nervensystem in dem nämli-
chen unglücklichen Zustande befinden, wie ein schwacher
König in seinem Staate, der von Allem leidet und nichts
vollbringen kann.
Man sicht, daſs diese Ansicht zu etwas zu gebrau-
chen ist, nämlich zur Erklärung psychischen Leidens,
wie es in Fiebern und im Delirium vorkommt. Nimmer-
mehr aber schickt sich so etwas zum gesunden Zustande,
worin der Geist eine zweckmäſsige Thätigkeit ausübt.
Der Musiker sieht nicht, sondern er hört; der Maler hört
nicht, sondern er sieht; der Algebraist sieht nur so viel,
als er braucht um seine Gedanken an sinnliche Zeichen
zu heften; und jeder tüchtige Arbeiter endlich bewegt
nur diejenigen Glieder, welche der Begriff der Arbeit
und die dahin gehörigen Vorschriften bewegt wissen wol-
len. So ist im gesunden Zustande das Nervensystem
weit mehr passive Maschine, als irgend eins von
denjenigen Organen, welche nach ihren eignen Gesetzen
die ihnen zukommenden Lebensfunctionen verrichten.
Das Nervensystem allein, läſst sich bald in diesem bald
in jenem seiner Theile eine Thätigkeit gefallen, deren
Princip nicht in ihm liegt; und wofür der Einheitspunct,
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/513>, abgerufen am 22.11.2024.
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