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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Unter den angegebenen Arten hebe ich zuerst die
Tobsucht heraus; (manie sans delire nach Pinel.) Bey
dieser steht das Psychologische und Physiologische noch
beynahe getrennt. In den Anfällen derselben empfindet
der Kranke, der seines Verstandes mächtig ist und bleibt,
ein Brennen im Unterleibe, welches allmählig sich fort-
pflanzt zur Brust, zum Halse, bis ins Gesicht und in die
Schläfen, mit sichtbaren Zeichen von heftigem Andrange
des Bluts; endlich ins Gehirn, wobey sich eine blinde
Wuth erhebt, jeden Nahestehenden zu mishandeln, ja
selbst die geliebtesten Personen zu morden. Der Ra-
sende verabscheut in diesem Zustande sich selbst, er
warnt, man möge ihm ausweichen, da er nicht im Stande
sey, sich zu zügeln, sondern von einer unwiderstehlichen
Gewalt sich fortgerissen fühle.

Sehr richtig ohne Zweifel bemerkt Reil, dass hier
die Krankheit nicht in der Seele, sondern im Körper
ihren Sitz habe. Denn dass ein heftiges, beym ersten
Anfalle unbekanntes, Körpergefühl sich eine Vorstellungs-
reihe anknüpfe, die eigentlich damit in gar keiner noth-
wendigen Verbindung steht, sondern jetzt erst eine Com-
plication mit jenem Gefühle eingeht, das kann man un-
möglich Krankheit nennen. Gerade das nämliche ist der
Fall beym Geschlechtstriebe, der nur nicht das Unwider-
stehliche mit der Tobsucht gemein hat; übrigens aber
uns eben so vergeblich bey der Frage verweilen machen
würde, was für ein innerer Zusammenhang sey zwischen
solchen Gefühlen und solchen Gedankenreihen und be-
absichtigten Handlungen? Der Tobsüchtige hat früherhin
vom Morden gehört, er hat sich eine dunkle Ahndung
gebildet, wie einem Mörder zu Muthe seyn möge; keine
andre Vorstellungsreihe ist mit ähnlicher Affection ver-
bunden, daher tritt diese Ahndung hervor, die noch am
ersten mit dem jetzt vorhandenen Körpergefühl eine Aehn-
lichkeit der Stimmung hat, -- und die unglücklichste
aller Complexionen ist fertig! Beym Geschlechtstriebe
hilft offenbar die Natur noch auf andre Weise nach, da-

K k 2

Unter den angegebenen Arten hebe ich zuerst die
Tobsucht heraus; (manie sans delire nach Pinel.) Bey
dieser steht das Psychologische und Physiologische noch
beynahe getrennt. In den Anfällen derselben empfindet
der Kranke, der seines Verstandes mächtig ist und bleibt,
ein Brennen im Unterleibe, welches allmählig sich fort-
pflanzt zur Brust, zum Halse, bis ins Gesicht und in die
Schläfen, mit sichtbaren Zeichen von heftigem Andrange
des Bluts; endlich ins Gehirn, wobey sich eine blinde
Wuth erhebt, jeden Nahestehenden zu mishandeln, ja
selbst die geliebtesten Personen zu morden. Der Ra-
sende verabscheut in diesem Zustande sich selbst, er
warnt, man möge ihm ausweichen, da er nicht im Stande
sey, sich zu zügeln, sondern von einer unwiderstehlichen
Gewalt sich fortgerissen fühle.

Sehr richtig ohne Zweifel bemerkt Reil, daſs hier
die Krankheit nicht in der Seele, sondern im Körper
ihren Sitz habe. Denn daſs ein heftiges, beym ersten
Anfalle unbekanntes, Körpergefühl sich eine Vorstellungs-
reihe anknüpfe, die eigentlich damit in gar keiner noth-
wendigen Verbindung steht, sondern jetzt erst eine Com-
plication mit jenem Gefühle eingeht, das kann man un-
möglich Krankheit nennen. Gerade das nämliche ist der
Fall beym Geschlechtstriebe, der nur nicht das Unwider-
stehliche mit der Tobsucht gemein hat; übrigens aber
uns eben so vergeblich bey der Frage verweilen machen
würde, was für ein innerer Zusammenhang sey zwischen
solchen Gefühlen und solchen Gedankenreihen und be-
absichtigten Handlungen? Der Tobsüchtige hat früherhin
vom Morden gehört, er hat sich eine dunkle Ahndung
gebildet, wie einem Mörder zu Muthe seyn möge; keine
andre Vorstellungsreihe ist mit ähnlicher Affection ver-
bunden, daher tritt diese Ahndung hervor, die noch am
ersten mit dem jetzt vorhandenen Körpergefühl eine Aehn-
lichkeit der Stimmung hat, — und die unglücklichste
aller Complexionen ist fertig! Beym Geschlechtstriebe
hilft offenbar die Natur noch auf andre Weise nach, da-

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[515/0550] Unter den angegebenen Arten hebe ich zuerst die Tobsucht heraus; (manie sans delire nach Pinel.) Bey dieser steht das Psychologische und Physiologische noch beynahe getrennt. In den Anfällen derselben empfindet der Kranke, der seines Verstandes mächtig ist und bleibt, ein Brennen im Unterleibe, welches allmählig sich fort- pflanzt zur Brust, zum Halse, bis ins Gesicht und in die Schläfen, mit sichtbaren Zeichen von heftigem Andrange des Bluts; endlich ins Gehirn, wobey sich eine blinde Wuth erhebt, jeden Nahestehenden zu mishandeln, ja selbst die geliebtesten Personen zu morden. Der Ra- sende verabscheut in diesem Zustande sich selbst, er warnt, man möge ihm ausweichen, da er nicht im Stande sey, sich zu zügeln, sondern von einer unwiderstehlichen Gewalt sich fortgerissen fühle. Sehr richtig ohne Zweifel bemerkt Reil, daſs hier die Krankheit nicht in der Seele, sondern im Körper ihren Sitz habe. Denn daſs ein heftiges, beym ersten Anfalle unbekanntes, Körpergefühl sich eine Vorstellungs- reihe anknüpfe, die eigentlich damit in gar keiner noth- wendigen Verbindung steht, sondern jetzt erst eine Com- plication mit jenem Gefühle eingeht, das kann man un- möglich Krankheit nennen. Gerade das nämliche ist der Fall beym Geschlechtstriebe, der nur nicht das Unwider- stehliche mit der Tobsucht gemein hat; übrigens aber uns eben so vergeblich bey der Frage verweilen machen würde, was für ein innerer Zusammenhang sey zwischen solchen Gefühlen und solchen Gedankenreihen und be- absichtigten Handlungen? Der Tobsüchtige hat früherhin vom Morden gehört, er hat sich eine dunkle Ahndung gebildet, wie einem Mörder zu Muthe seyn möge; keine andre Vorstellungsreihe ist mit ähnlicher Affection ver- bunden, daher tritt diese Ahndung hervor, die noch am ersten mit dem jetzt vorhandenen Körpergefühl eine Aehn- lichkeit der Stimmung hat, — und die unglücklichste aller Complexionen ist fertig! Beym Geschlechtstriebe hilft offenbar die Natur noch auf andre Weise nach, da- K k 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/550>, abgerufen am 22.11.2024.