sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen von einer reinen Vernunft, die einen Vorrath von Ideen und Befehlen in sich trage; aber die Thatsache gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muss man in empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me- chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger die Erklärung zulassen: die Vernunft sey das Ver- mögen der Principien.
Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne Zweifel den Satz klärlich einsehn: der Verstand hat Vernunft. Denn wie könnte man immer seine Gedan- ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten, ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? -- Eben so klar ist ein zweyter Satz: die Vernunft hat Verstand. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich- tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf- fenheit des Gedachten gemäss wären? Eben so leicht würde man beweisen können, dass beyde, Verstand und Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs- vermögen haben; da beyde sich bestreben, zu denken; und es fühlen, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge- langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See- lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt, als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt nur noch, dass der Verstand neben den andern Vermö- gen, die er schon hat, auch noch Verstand -- die Ver- nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst besitzt, auch noch Vernunft bekomme!
Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die- sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver- nunft, -- das heisst, der Begriffe, welche der Sprachge- brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na- türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-
nen,
sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen von einer reinen Vernunft, die einen Vorrath von Ideen und Befehlen in sich trage; aber die Thatsache gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muſs man in empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me- chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger die Erklärung zulassen: die Vernunft sey das Ver- mögen der Principien.
Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne Zweifel den Satz klärlich einsehn: der Verstand hat Vernunft. Denn wie könnte man immer seine Gedan- ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten, ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? — Eben so klar ist ein zweyter Satz: die Vernunft hat Verstand. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich- tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf- fenheit des Gedachten gemäſs wären? Eben so leicht würde man beweisen können, daſs beyde, Verstand und Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs- vermögen haben; da beyde sich bestreben, zu denken; und es fühlen, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge- langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See- lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt, als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt nur noch, daſs der Verstand neben den andern Vermö- gen, die er schon hat, auch noch Verstand — die Ver- nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst besitzt, auch noch Vernunft bekomme!
Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die- sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver- nunft, — das heiſst, der Begriffe, welche der Sprachge- brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na- türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-
nen,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0083"n="48"/>
sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen<lb/>
von einer <hirendition="#g">reinen</hi> Vernunft, die einen Vorrath von<lb/><hirendition="#g">Ideen</hi> und <hirendition="#g">Befehlen</hi> in sich trage; aber die Thatsache<lb/>
gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muſs man in<lb/>
empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen<lb/>
vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch<lb/>
nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me-<lb/>
chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger<lb/>
die Erklärung zulassen: <hirendition="#g">die Vernunft sey das Ver-<lb/>
mögen der Principien</hi>.</p><lb/><p>Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne<lb/>
Zweifel den Satz klärlich einsehn: <hirendition="#g">der Verstand hat<lb/>
Vernunft</hi>. Denn wie könnte man immer seine Gedan-<lb/>
ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten,<lb/>
ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? —<lb/>
Eben so klar ist ein zweyter Satz: <hirendition="#g">die Vernunft hat<lb/>
Verstand</hi>. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich-<lb/>
tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die<lb/>
in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf-<lb/>
fenheit des Gedachten gemäſs wären? Eben so leicht<lb/>
würde man beweisen können, daſs beyde, Verstand und<lb/>
Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs-<lb/>
vermögen haben; da beyde sich <hirendition="#g">bestreben</hi>, zu denken;<lb/>
und es <hirendition="#g">fühlen</hi>, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge-<lb/>
langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See-<lb/>
lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt,<lb/>
als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt<lb/>
nur noch, daſs der Verstand neben den andern Vermö-<lb/>
gen, die er schon hat, auch noch <hirendition="#g">Verstand</hi>— die Ver-<lb/>
nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst<lb/>
besitzt, auch noch <hirendition="#g">Vernunft</hi> bekomme!</p><lb/><p>Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die-<lb/>
sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der<lb/>
zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver-<lb/>
nunft, — das heiſst, der Begriffe, welche der Sprachge-<lb/>
brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na-<lb/>
türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nen,</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[48/0083]
sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen
von einer reinen Vernunft, die einen Vorrath von
Ideen und Befehlen in sich trage; aber die Thatsache
gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muſs man in
empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen
vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch
nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me-
chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger
die Erklärung zulassen: die Vernunft sey das Ver-
mögen der Principien.
Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne
Zweifel den Satz klärlich einsehn: der Verstand hat
Vernunft. Denn wie könnte man immer seine Gedan-
ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten,
ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? —
Eben so klar ist ein zweyter Satz: die Vernunft hat
Verstand. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich-
tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die
in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf-
fenheit des Gedachten gemäſs wären? Eben so leicht
würde man beweisen können, daſs beyde, Verstand und
Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs-
vermögen haben; da beyde sich bestreben, zu denken;
und es fühlen, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge-
langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See-
lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt,
als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt
nur noch, daſs der Verstand neben den andern Vermö-
gen, die er schon hat, auch noch Verstand — die Ver-
nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst
besitzt, auch noch Vernunft bekomme!
Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die-
sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der
zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver-
nunft, — das heiſst, der Begriffe, welche der Sprachge-
brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na-
türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-
nen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/83>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.