Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen
von einer reinen Vernunft, die einen Vorrath von
Ideen und Befehlen in sich trage; aber die Thatsache
gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muss man in
empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen
vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch
nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me-
chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger
die Erklärung zulassen: die Vernunft sey das Ver-
mögen der Principien
.

Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne
Zweifel den Satz klärlich einsehn: der Verstand hat
Vernunft
. Denn wie könnte man immer seine Gedan-
ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten,
ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? --
Eben so klar ist ein zweyter Satz: die Vernunft hat
Verstand
. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich-
tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die
in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf-
fenheit des Gedachten gemäss wären? Eben so leicht
würde man beweisen können, dass beyde, Verstand und
Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs-
vermögen haben; da beyde sich bestreben, zu denken;
und es fühlen, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge-
langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See-
lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt,
als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt
nur noch, dass der Verstand neben den andern Vermö-
gen, die er schon hat, auch noch Verstand -- die Ver-
nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst
besitzt, auch noch Vernunft bekomme!

Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die-
sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der
zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver-
nunft, -- das heisst, der Begriffe, welche der Sprachge-
brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na-
türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-

nen,

sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen
von einer reinen Vernunft, die einen Vorrath von
Ideen und Befehlen in sich trage; aber die Thatsache
gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muſs man in
empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen
vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch
nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me-
chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger
die Erklärung zulassen: die Vernunft sey das Ver-
mögen der Principien
.

Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne
Zweifel den Satz klärlich einsehn: der Verstand hat
Vernunft
. Denn wie könnte man immer seine Gedan-
ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten,
ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? —
Eben so klar ist ein zweyter Satz: die Vernunft hat
Verstand
. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich-
tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die
in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf-
fenheit des Gedachten gemäſs wären? Eben so leicht
würde man beweisen können, daſs beyde, Verstand und
Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs-
vermögen haben; da beyde sich bestreben, zu denken;
und es fühlen, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge-
langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See-
lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt,
als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt
nur noch, daſs der Verstand neben den andern Vermö-
gen, die er schon hat, auch noch Verstand — die Ver-
nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst
besitzt, auch noch Vernunft bekomme!

Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die-
sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der
zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver-
nunft, — das heiſst, der Begriffe, welche der Sprachge-
brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na-
türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-

nen,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0083" n="48"/>
sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen<lb/>
von einer <hi rendition="#g">reinen</hi> Vernunft, die einen Vorrath von<lb/><hi rendition="#g">Ideen</hi> und <hi rendition="#g">Befehlen</hi> in sich trage; aber die Thatsache<lb/>
gehört zu den bestrittenen; und dergleichen mu&#x017F;s man in<lb/>
empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen<lb/>
vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch<lb/>
nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me-<lb/>
chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger<lb/>
die Erklärung zulassen: <hi rendition="#g">die Vernunft sey das Ver-<lb/>
mögen der Principien</hi>.</p><lb/>
          <p>Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne<lb/>
Zweifel den Satz klärlich einsehn: <hi rendition="#g">der Verstand hat<lb/>
Vernunft</hi>. Denn wie könnte man immer seine Gedan-<lb/>
ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten,<lb/>
ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? &#x2014;<lb/>
Eben so klar ist ein zweyter Satz: <hi rendition="#g">die Vernunft hat<lb/>
Verstand</hi>. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich-<lb/>
tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die<lb/>
in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf-<lb/>
fenheit des Gedachten gemä&#x017F;s wären? Eben so leicht<lb/>
würde man beweisen können, da&#x017F;s beyde, Verstand und<lb/>
Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs-<lb/>
vermögen haben; da beyde sich <hi rendition="#g">bestreben</hi>, zu denken;<lb/>
und es <hi rendition="#g">fühlen</hi>, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge-<lb/>
langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See-<lb/>
lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt,<lb/>
als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt<lb/>
nur noch, da&#x017F;s der Verstand neben den andern Vermö-<lb/>
gen, die er schon hat, auch noch <hi rendition="#g">Verstand</hi> &#x2014; die Ver-<lb/>
nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst<lb/>
besitzt, auch noch <hi rendition="#g">Vernunft</hi> bekomme!</p><lb/>
          <p>Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die-<lb/>
sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der<lb/>
zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver-<lb/>
nunft, &#x2014; das hei&#x017F;st, der Begriffe, welche der Sprachge-<lb/>
brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na-<lb/>
türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nen,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0083] sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen von einer reinen Vernunft, die einen Vorrath von Ideen und Befehlen in sich trage; aber die Thatsache gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muſs man in empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me- chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger die Erklärung zulassen: die Vernunft sey das Ver- mögen der Principien. Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne Zweifel den Satz klärlich einsehn: der Verstand hat Vernunft. Denn wie könnte man immer seine Gedan- ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten, ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? — Eben so klar ist ein zweyter Satz: die Vernunft hat Verstand. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich- tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf- fenheit des Gedachten gemäſs wären? Eben so leicht würde man beweisen können, daſs beyde, Verstand und Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs- vermögen haben; da beyde sich bestreben, zu denken; und es fühlen, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge- langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See- lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt, als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt nur noch, daſs der Verstand neben den andern Vermö- gen, die er schon hat, auch noch Verstand — die Ver- nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst besitzt, auch noch Vernunft bekomme! Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die- sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver- nunft, — das heiſst, der Begriffe, welche der Sprachge- brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na- türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich- nen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/83
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/83>, abgerufen am 21.11.2024.