Je roher der Mensch, desto rücksichtloser sind die Ge- setze. Hingegen je
weniger Gefahr, man werde die Aus- nahme zur Regel machen, desto mehr neigt sich
die Gesetz- gebung selbst dahin, die Fälle seiner zu unterscheiden; und je
mehr Zutrauen zu der Jntegrität und Einsicht der Rich- ter, desto mehr wird ihrem
Ermessen überlassen. Doch bleibt es Kennzeichen eines guten Gesetzes, vor dem Er- eigniß, auf das es angewendet wird, vestge- stellt zu seyn; denn darin, daß der Gesetzgeber den ein- zelnen, noch
ungeschehenen Fall nicht wissen konnte, liegt allein die Bürgschaft der
gefoderteu völligen Unparthey- lichen.
231. Aus dem Selbstbewußtseyn folgt das Gewis- sen; denn indem der Mensch sich
selber ein Schauspiel ist, fällt er auch Urtheile über sich selbst. -- Die innere
Wahrnehmung aber kann auf die zweyte Potenz steigen; dann beurtheilt der
Mensch seine Art, sich selbst zu beur- theilen.
Hier nun entsteht die Frage: ob auch der innere Rich- ter partheyisch sey? Und
es bedarf nur einer kurzen Reihe innerer Wahrnehmungen, um die Gefahr eines
unlautern Selbsturtheils kennen zu lernen.
Als nothwendiges Sicherheits-Mittel gegen solche Par- theylichkeit wird demnach
auch für das eigne Jnnere des Menschen, so wie für die bürgerliche Gesellschaft,
ein be- stehendes Gesetz gefodert, das den zu beurtheilenden Fällen vorangehe. Die Strenge der Vorschrift wird auch hier all- mählig milder, und mehr
der Verschiedenartigkeit der Fälle angepaßt, bis eine übertriebene Milde
wiederum zur Schär- fung der Regel zurückführt.
232. Hiebey ist über den Jnhalt der Selbst-Gesetz- gebung noch nichts
vestgesetzt. Dem Bedürfnisse derselben kommt das allgemeine Wollen (226)
entgegen; dieses aber
Je roher der Mensch, desto rücksichtloser sind die Ge- setze. Hingegen je
weniger Gefahr, man werde die Aus- nahme zur Regel machen, desto mehr neigt sich
die Gesetz- gebung selbst dahin, die Fälle seiner zu unterscheiden; und je
mehr Zutrauen zu der Jntegrität und Einsicht der Rich- ter, desto mehr wird ihrem
Ermessen überlassen. Doch bleibt es Kennzeichen eines guten Gesetzes, vor dem Er- eigniß, auf das es angewendet wird, vestge- stellt zu seyn; denn darin, daß der Gesetzgeber den ein- zelnen, noch
ungeschehenen Fall nicht wissen konnte, liegt allein die Bürgschaft der
gefoderteu völligen Unparthey- lichen.
231. Aus dem Selbstbewußtseyn folgt das Gewis- sen; denn indem der Mensch sich
selber ein Schauspiel ist, fällt er auch Urtheile über sich selbst. — Die innere
Wahrnehmung aber kann auf die zweyte Potenz steigen; dann beurtheilt der
Mensch seine Art, sich selbst zu beur- theilen.
Hier nun entsteht die Frage: ob auch der innere Rich- ter partheyisch sey? Und
es bedarf nur einer kurzen Reihe innerer Wahrnehmungen, um die Gefahr eines
unlautern Selbsturtheils kennen zu lernen.
Als nothwendiges Sicherheits-Mittel gegen solche Par- theylichkeit wird demnach
auch für das eigne Jnnere des Menschen, so wie für die bürgerliche Gesellschaft,
ein be- stehendes Gesetz gefodert, das den zu beurtheilenden Fällen vorangehe. Die Strenge der Vorschrift wird auch hier all- mählig milder, und mehr
der Verschiedenartigkeit der Fälle angepaßt, bis eine übertriebene Milde
wiederum zur Schär- fung der Regel zurückführt.
232. Hiebey ist über den Jnhalt der Selbst-Gesetz- gebung noch nichts
vestgesetzt. Dem Bedürfnisse derselben kommt das allgemeine Wollen (226)
entgegen; dieses aber
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Je roher der Mensch, desto rücksichtloser sind die Ge-
setze. Hingegen je weniger Gefahr, man werde die Aus-
nahme zur Regel machen, desto mehr neigt sich die Gesetz-
gebung selbst dahin, die Fälle seiner zu unterscheiden; und
je mehr Zutrauen zu der Jntegrität und Einsicht der Rich-
ter, desto mehr wird ihrem Ermessen überlassen. Doch
bleibt es Kennzeichen eines guten Gesetzes, vor dem Er-
eigniß, auf das es angewendet wird, vestge-
stellt zu seyn; denn darin, daß der Gesetzgeber den ein-
zelnen, noch ungeschehenen Fall nicht wissen konnte, liegt
allein die Bürgschaft der gefoderteu völligen Unparthey-
lichen.
231. Aus dem Selbstbewußtseyn folgt das Gewis-
sen; denn indem der Mensch sich selber ein Schauspiel
ist, fällt er auch Urtheile über sich selbst. — Die innere
Wahrnehmung aber kann auf die zweyte Potenz steigen;
dann beurtheilt der Mensch seine Art, sich selbst zu beur-
theilen.
Hier nun entsteht die Frage: ob auch der innere Rich-
ter partheyisch sey? Und es bedarf nur einer kurzen Reihe
innerer Wahrnehmungen, um die Gefahr eines unlautern
Selbsturtheils kennen zu lernen.
Als nothwendiges Sicherheits-Mittel gegen solche Par-
theylichkeit wird demnach auch für das eigne Jnnere des
Menschen, so wie für die bürgerliche Gesellschaft, ein be-
stehendes Gesetz gefodert, das den zu beurtheilenden Fällen
vorangehe. Die Strenge der Vorschrift wird auch hier all-
mählig milder, und mehr der Verschiedenartigkeit der Fälle
angepaßt, bis eine übertriebene Milde wiederum zur Schär-
fung der Regel zurückführt.
232. Hiebey ist über den Jnhalt der Selbst-Gesetz-
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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/190>, abgerufen am 16.02.2025.
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