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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Blicke überschaut werden. Auch ist das ganze Gerüst von
Arten und Gattungen, welches wir nach Anleitung der Lo-
gik in Begriffen erbauen können, der Wirklichkeit fremd,
und nur in unserer, an die Urtheilsform gebundenen,
Erkenntniß zu gebrauchen.

Anmerkung. Schon manchem Philosophen hat das
Jdeal einer anschauenden Erkenntniß vorgeschwebt (z. B.
dem Spinoza), zu welcher freylich, wenn sie Wahrheit
gewähren sollte, eine sinnenfreye, unmittelbar auf das Wahre
gerichtete, sogenannte intellectuale Anschauung würde
erfodert werden. Was daraus wird, wenn widersprechende
Begriffe für angeschaute Gegenstände genommen, und als
solche angepriesen werden, das hat das Zeitalter zum Theil
erfahren; die Psychologie kann aber noch mit eben so trau-
rigen als mcrkwürdigen Thatsachen bereichert werden, wenn
man nicht abläßt, das cum ratione insanire kunstmäßig
zu betreiben. Verstünde man dagegen, falsche Systeme in
die Ferne zu stellen und sie aus dem rechten Standpunkte
zu betrachten: so würde man daraus lernen.

82. Die Hauptfrage, welche wir in Ansehung der
Urtheile an die speculative Psychologie zu richten haben, ist
so zu fassen: woher kommt die leidentliche Stel-
lung des Subjects, als desjenigen Gedankens
dem eine Bestimmung erst noch durch das Prädi-
cat gegeben werden müsse? Warum setzen sich
nicht Subject und Prädicat sogleich, indem sie
im Denken zusammenkommen, in das Verhalt-
niß des Substantivs und Adjectivs?
Warum scheint
es, als ob wirklich ein Seelenvermögen, Urtheilskraft ge-
nannt, sie erst copuliren müßte?

Vorläufig sind hiebey in factischer Hinsicht folgende Be-
merkungen zu machen:

a) Es ist eine Erschleichung, wenn man behauptet,

Blicke überschaut werden. Auch ist das ganze Gerüst von
Arten und Gattungen, welches wir nach Anleitung der Lo-
gik in Begriffen erbauen können, der Wirklichkeit fremd,
und nur in unserer, an die Urtheilsform gebundenen,
Erkenntniß zu gebrauchen.

Anmerkung. Schon manchem Philosophen hat das
Jdeal einer anschauenden Erkenntniß vorgeschwebt (z. B.
dem Spinoza), zu welcher freylich, wenn sie Wahrheit
gewähren sollte, eine sinnenfreye, unmittelbar auf das Wahre
gerichtete, sogenannte intellectuale Anschauung würde
erfodert werden. Was daraus wird, wenn widersprechende
Begriffe für angeschaute Gegenstände genommen, und als
solche angepriesen werden, das hat das Zeitalter zum Theil
erfahren; die Psychologie kann aber noch mit eben so trau-
rigen als mcrkwürdigen Thatsachen bereichert werden, wenn
man nicht abläßt, das cum ratione insanire kunstmäßig
zu betreiben. Verstünde man dagegen, falsche Systeme in
die Ferne zu stellen und sie aus dem rechten Standpunkte
zu betrachten: so würde man daraus lernen.

82. Die Hauptfrage, welche wir in Ansehung der
Urtheile an die speculative Psychologie zu richten haben, ist
so zu fassen: woher kommt die leidentliche Stel-
lung des Subjects, als desjenigen Gedankens
dem eine Bestimmung erst noch durch das Prädi-
cat gegeben werden müsse? Warum setzen sich
nicht Subject und Prädicat sogleich, indem sie
im Denken zusammenkommen, in das Verhalt-
niß des Substantivs und Adjectivs?
Warum scheint
es, als ob wirklich ein Seelenvermögen, Urtheilskraft ge-
nannt, sie erst copuliren müßte?

Vorläufig sind hiebey in factischer Hinsicht folgende Be-
merkungen zu machen:

a) Es ist eine Erschleichung, wenn man behauptet,

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[65/0073] Blicke überschaut werden. Auch ist das ganze Gerüst von Arten und Gattungen, welches wir nach Anleitung der Lo- gik in Begriffen erbauen können, der Wirklichkeit fremd, und nur in unserer, an die Urtheilsform gebundenen, Erkenntniß zu gebrauchen. Anmerkung. Schon manchem Philosophen hat das Jdeal einer anschauenden Erkenntniß vorgeschwebt (z. B. dem Spinoza), zu welcher freylich, wenn sie Wahrheit gewähren sollte, eine sinnenfreye, unmittelbar auf das Wahre gerichtete, sogenannte intellectuale Anschauung würde erfodert werden. Was daraus wird, wenn widersprechende Begriffe für angeschaute Gegenstände genommen, und als solche angepriesen werden, das hat das Zeitalter zum Theil erfahren; die Psychologie kann aber noch mit eben so trau- rigen als mcrkwürdigen Thatsachen bereichert werden, wenn man nicht abläßt, das cum ratione insanire kunstmäßig zu betreiben. Verstünde man dagegen, falsche Systeme in die Ferne zu stellen und sie aus dem rechten Standpunkte zu betrachten: so würde man daraus lernen. 82. Die Hauptfrage, welche wir in Ansehung der Urtheile an die speculative Psychologie zu richten haben, ist so zu fassen: woher kommt die leidentliche Stel- lung des Subjects, als desjenigen Gedankens dem eine Bestimmung erst noch durch das Prädi- cat gegeben werden müsse? Warum setzen sich nicht Subject und Prädicat sogleich, indem sie im Denken zusammenkommen, in das Verhalt- niß des Substantivs und Adjectivs? Warum scheint es, als ob wirklich ein Seelenvermögen, Urtheilskraft ge- nannt, sie erst copuliren müßte? Vorläufig sind hiebey in factischer Hinsicht folgende Be- merkungen zu machen: a) Es ist eine Erschleichung, wenn man behauptet,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/73>, abgerufen am 26.11.2024.