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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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liche, vielseitige, gelehrte Form gegossen ist, noch
Sinnlichkeit, und roher Scharfsinn, und Schlau-
heit, und muthige Würksamkeit, und Leidenschaft
und Erfindungsgeist -- die ganze ungetheilte
menschliche Seele am lebhaftesten würke? Am
lebhaftesten würke, weil sie noch auf keine lang-
weilige Regeln gebracht, immer in einem Kreise
von Bedürfnissen, von Gefahren, von andringen-
den Erfordernissen ganz lebt, und sich also immer
neu und ganz fühlt. Da, nur da zeigt sie Kräfte,
sich Sprache zu bilden und fortzubilden! da hat
sie Sinnlichkeit und gleichsam Jnstinkt gnug, um
den ganzen Laut und alle sich äußernde Merkmale
der lebenden Natur so ganz zu empfinden, wie
wir nicht mehr können: und wenn die Besinnung
alsdenn Eins derselben lostrennet, es so stark und
innig zu nennen, als wirs nicht nennen würden.
Je minder die Seelenkräfte noch entwickelt und
jede zu einer eignen Sphäre abgerichtet ist: desto
stärker würken alle zusammen: desto inniger
ist der Mittelpunkt ihrer Jntensität; nehmet aber
diesen großen unzerbrechlichen Pfeilbund auseinan-
der und ihr könnt sie alle zerbrechen, und denn

läßt
L 4

liche, vielſeitige, gelehrte Form gegoſſen iſt, noch
Sinnlichkeit, und roher Scharfſinn, und Schlau-
heit, und muthige Wuͤrkſamkeit, und Leidenſchaft
und Erfindungsgeiſt — die ganze ungetheilte
menſchliche Seele am lebhafteſten wuͤrke? Am
lebhafteſten wuͤrke, weil ſie noch auf keine lang-
weilige Regeln gebracht, immer in einem Kreiſe
von Beduͤrfniſſen, von Gefahren, von andringen-
den Erforderniſſen ganz lebt, und ſich alſo immer
neu und ganz fuͤhlt. Da, nur da zeigt ſie Kraͤfte,
ſich Sprache zu bilden und fortzubilden! da hat
ſie Sinnlichkeit und gleichſam Jnſtinkt gnug, um
den ganzen Laut und alle ſich aͤußernde Merkmale
der lebenden Natur ſo ganz zu empfinden, wie
wir nicht mehr koͤnnen: und wenn die Beſinnung
alsdenn Eins derſelben lostrennet, es ſo ſtark und
innig zu nennen, als wirs nicht nennen wuͤrden.
Je minder die Seelenkraͤfte noch entwickelt und
jede zu einer eignen Sphaͤre abgerichtet iſt: deſto
ſtaͤrker wuͤrken alle zuſammen: deſto inniger
iſt der Mittelpunkt ihrer Jntenſitaͤt; nehmet aber
dieſen großen unzerbrechlichen Pfeilbund auseinan-
der und ihr koͤnnt ſie alle zerbrechen, und denn

laͤßt
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[167/0173] liche, vielſeitige, gelehrte Form gegoſſen iſt, noch Sinnlichkeit, und roher Scharfſinn, und Schlau- heit, und muthige Wuͤrkſamkeit, und Leidenſchaft und Erfindungsgeiſt — die ganze ungetheilte menſchliche Seele am lebhafteſten wuͤrke? Am lebhafteſten wuͤrke, weil ſie noch auf keine lang- weilige Regeln gebracht, immer in einem Kreiſe von Beduͤrfniſſen, von Gefahren, von andringen- den Erforderniſſen ganz lebt, und ſich alſo immer neu und ganz fuͤhlt. Da, nur da zeigt ſie Kraͤfte, ſich Sprache zu bilden und fortzubilden! da hat ſie Sinnlichkeit und gleichſam Jnſtinkt gnug, um den ganzen Laut und alle ſich aͤußernde Merkmale der lebenden Natur ſo ganz zu empfinden, wie wir nicht mehr koͤnnen: und wenn die Beſinnung alsdenn Eins derſelben lostrennet, es ſo ſtark und innig zu nennen, als wirs nicht nennen wuͤrden. Je minder die Seelenkraͤfte noch entwickelt und jede zu einer eignen Sphaͤre abgerichtet iſt: deſto ſtaͤrker wuͤrken alle zuſammen: deſto inniger iſt der Mittelpunkt ihrer Jntenſitaͤt; nehmet aber dieſen großen unzerbrechlichen Pfeilbund auseinan- der und ihr koͤnnt ſie alle zerbrechen, und denn laͤßt L 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/173>, abgerufen am 21.11.2024.