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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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Seele in einen gleichmäßigen Ton, sie leiden würk-
lich mechanisch mit. Und welche Stählung seiner
Fibern! -- Welche Macht, alle Oeffnungen sei-
ner Empfindsamkeit zu verstopfen gehört dazu, daß
ein Mensch hiegegen taub und hart werde! -- --
Diderot *) meint, daß ein blindgebohrner ge-
gen die Klagen eines leidenden Thiers unempfind-
licher seyn müste, als ein Sehender; allein ich glau-
be, unter gewissen Fällen, das Gegentheil. Freilich
ist ihm das ganze rührende Schauspiel dieses elenden
zuckenden Geschöpfs verhüllet; allein alle Beispiele
sagen, daß eben durch diese Verhüllung das Gehör
weniger zerstreut, horchender und mächtig eindrin-
gender werde. Da lauschet er also im Finstern,
in der Stille seiner ewigen Nacht, und jeder Kla-
geton geht ihm, um so inniger und schärfer, wie
ein Pfeil, zum Herzen! Nun nehme er noch das
tastende, langsam umspannende Gefühl zu Hülfe,
taste die Zuckungen, erfühle den Bruch der leiden-
den Maschiene sich ganz, -- Grausen und Schmerz
fährt durch seine Glieder: sein innrer Nervenbau

fühlt
*) Lettre sur les Aveugles a l'usage de ceux qui voyent &c.

Seele in einen gleichmaͤßigen Ton, ſie leiden wuͤrk-
lich mechaniſch mit. Und welche Staͤhlung ſeiner
Fibern! — Welche Macht, alle Oeffnungen ſei-
ner Empfindſamkeit zu verſtopfen gehoͤrt dazu, daß
ein Menſch hiegegen taub und hart werde! — —
Diderot *) meint, daß ein blindgebohrner ge-
gen die Klagen eines leidenden Thiers unempfind-
licher ſeyn muͤſte, als ein Sehender; allein ich glau-
be, unter gewiſſen Faͤllen, das Gegentheil. Freilich
iſt ihm das ganze ruͤhrende Schauſpiel dieſes elenden
zuckenden Geſchoͤpfs verhuͤllet; allein alle Beiſpiele
ſagen, daß eben durch dieſe Verhuͤllung das Gehoͤr
weniger zerſtreut, horchender und maͤchtig eindrin-
gender werde. Da lauſchet er alſo im Finſtern,
in der Stille ſeiner ewigen Nacht, und jeder Kla-
geton geht ihm, um ſo inniger und ſchaͤrfer, wie
ein Pfeil, zum Herzen! Nun nehme er noch das
taſtende, langſam umſpannende Gefuͤhl zu Huͤlfe,
taſte die Zuckungen, erfuͤhle den Bruch der leiden-
den Maſchiene ſich ganz, — Grauſen und Schmerz
faͤhrt durch ſeine Glieder: ſein innrer Nervenbau

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*) Lettre ſur les Aveugles à l’uſage de ceux qui voyent &c.
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[20/0026] Seele in einen gleichmaͤßigen Ton, ſie leiden wuͤrk- lich mechaniſch mit. Und welche Staͤhlung ſeiner Fibern! — Welche Macht, alle Oeffnungen ſei- ner Empfindſamkeit zu verſtopfen gehoͤrt dazu, daß ein Menſch hiegegen taub und hart werde! — — Diderot *) meint, daß ein blindgebohrner ge- gen die Klagen eines leidenden Thiers unempfind- licher ſeyn muͤſte, als ein Sehender; allein ich glau- be, unter gewiſſen Faͤllen, das Gegentheil. Freilich iſt ihm das ganze ruͤhrende Schauſpiel dieſes elenden zuckenden Geſchoͤpfs verhuͤllet; allein alle Beiſpiele ſagen, daß eben durch dieſe Verhuͤllung das Gehoͤr weniger zerſtreut, horchender und maͤchtig eindrin- gender werde. Da lauſchet er alſo im Finſtern, in der Stille ſeiner ewigen Nacht, und jeder Kla- geton geht ihm, um ſo inniger und ſchaͤrfer, wie ein Pfeil, zum Herzen! Nun nehme er noch das taſtende, langſam umſpannende Gefuͤhl zu Huͤlfe, taſte die Zuckungen, erfuͤhle den Bruch der leiden- den Maſchiene ſich ganz, — Grauſen und Schmerz faͤhrt durch ſeine Glieder: ſein innrer Nervenbau fuͤhlt *) Lettre ſur les Aveugles à l’uſage de ceux qui voyent &c.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/26>, abgerufen am 21.11.2024.