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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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Wenn der Mensch kein Jnstinktmäßiges
Thier
seyn sollte, er vermöge der freierwürkenden
positiven Kraft seiner Seele ein besonnenes Ge-
schöpf seyn mußte.
-- -- -- Wenn ich die Kette
dieser Schlüße noch einige Schritte weiter ziehe,
so bekomme ich damit vor künftigen Einwendungen
einen den Weg sehr kürzenden Vorsprung.

Jst nemlich die Vernunft keine abgetheilte,
einzelnwürkende Kraft, sondern eine seiner Gat-
tung eigne Richtung aller Kräfte: so muß der
Mensch sie im ersten Zustande haben, da er
Mensch ist.
Jm ersten Gedanken des Kindes
muß sich diese Besonnenheit zeigen, wie bei dem
Jnsekt, daß es Jnsekt war. -- -- Das hat
nun mehr als ein Schriftsteller nicht begreifen
können, und daher ist die Materie, über die ich
schreibe, mit den rohesten eckelhaftesten Einwürfen
angefüllet -- aber sie konnten es nicht begreifen,
weil sie es mißverstanden. Heißt denn vernünftig
denken, mit ausgebildeter Vernunft denken?
Heißts, der Säugling denke mit Besonnenheit,
er raisonnire wie ein Sophist auf seinem Catheder
oder der Staatsmann in seinem Cabinett? Glück-

lich

Wenn der Menſch kein Jnſtinktmaͤßiges
Thier
ſeyn ſollte, er vermoͤge der freierwuͤrkenden
poſitiven Kraft ſeiner Seele ein beſonnenes Ge-
ſchoͤpf ſeyn mußte.
— — — Wenn ich die Kette
dieſer Schluͤße noch einige Schritte weiter ziehe,
ſo bekomme ich damit vor kuͤnftigen Einwendungen
einen den Weg ſehr kuͤrzenden Vorſprung.

Jſt nemlich die Vernunft keine abgetheilte,
einzelnwuͤrkende Kraft, ſondern eine ſeiner Gat-
tung eigne Richtung aller Kraͤfte: ſo muß der
Menſch ſie im erſten Zuſtande haben, da er
Menſch iſt.
Jm erſten Gedanken des Kindes
muß ſich dieſe Beſonnenheit zeigen, wie bei dem
Jnſekt, daß es Jnſekt war. — — Das hat
nun mehr als ein Schriftſteller nicht begreifen
koͤnnen, und daher iſt die Materie, uͤber die ich
ſchreibe, mit den roheſten eckelhafteſten Einwuͤrfen
angefuͤllet — aber ſie konnten es nicht begreifen,
weil ſie es mißverſtanden. Heißt denn vernuͤnftig
denken, mit ausgebildeter Vernunft denken?
Heißts, der Saͤugling denke mit Beſonnenheit,
er raiſonnire wie ein Sophiſt auf ſeinem Catheder
oder der Staatsmann in ſeinem Cabinett? Gluͤck-

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[47/0053] Wenn der Menſch kein Jnſtinktmaͤßiges Thier ſeyn ſollte, er vermoͤge der freierwuͤrkenden poſitiven Kraft ſeiner Seele ein beſonnenes Ge- ſchoͤpf ſeyn mußte. — — — Wenn ich die Kette dieſer Schluͤße noch einige Schritte weiter ziehe, ſo bekomme ich damit vor kuͤnftigen Einwendungen einen den Weg ſehr kuͤrzenden Vorſprung. Jſt nemlich die Vernunft keine abgetheilte, einzelnwuͤrkende Kraft, ſondern eine ſeiner Gat- tung eigne Richtung aller Kraͤfte: ſo muß der Menſch ſie im erſten Zuſtande haben, da er Menſch iſt. Jm erſten Gedanken des Kindes muß ſich dieſe Beſonnenheit zeigen, wie bei dem Jnſekt, daß es Jnſekt war. — — Das hat nun mehr als ein Schriftſteller nicht begreifen koͤnnen, und daher iſt die Materie, uͤber die ich ſchreibe, mit den roheſten eckelhafteſten Einwuͤrfen angefuͤllet — aber ſie konnten es nicht begreifen, weil ſie es mißverſtanden. Heißt denn vernuͤnftig denken, mit ausgebildeter Vernunft denken? Heißts, der Saͤugling denke mit Beſonnenheit, er raiſonnire wie ein Sophiſt auf ſeinem Catheder oder der Staatsmann in ſeinem Cabinett? Gluͤck- lich

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/53>, abgerufen am 24.11.2024.