Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

Bild:
<< vorherige Seite

Volks entsprungen, unter ihnen lebend und wirkend. Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehört oder gelesen? Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache, Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte. Hier war zwar einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und Handlung, ein Nothdrang ans Herz, schwere Akzente oder scharfe Pfeile für die ofne, wahrheittrunkne Seele. Ihr neuen Romanzer, Kirchenlieder- und Odenversler, könnet ihr das? wirkt ihr das? und werdet ihrs auf Eurem Wege jemals wirken? Für Euch sollen wir alle im Lehnstuhl ruhig schlummern, mit der Puppe spielen, oder das Versebildlein als Kabinetstück auffangen, daß es im klassischen vergoldtem Rahm da zierlich müssig hange.

Wenn Bürger, der die Sprache und das Herz dieser Volksrührung tief kennet, uns einst einen deutschen Helden- oder Thatengesang voll aller Kraft und alles Ganges dieser kleinen Lieder gäbe: ihr Deutsche, wer würde nicht zulaufen, horchen und staunen? Und er kann ihn geben; seine Romanzen, Lieder, selbst sein verdeutschter Homer ist voll dieser Akzente, und bey allen Völkern ist Epopee und selbst Drama nur aus Volkserzählung, Romanze und Lied worden. - Ja wären wir nicht auch weiter, wenn selbst unsre Geschichte und Beredsamkeit den simpeln, starken, nicht übereilten, aber zum Ziel strebenden Gang des deutschen Geistes in That und Rede genommen oder vielmehr behalten hätte: denn in den alten Chroniken, Reden und Schriften ist er schon da. Die liebe Moral und die feine pragmatische Philosophie würde sich jeder Machiavell doch selbst heraus finden können. Ja endlich wäre selbst unsre Erziehung deutscher, an Materialien dieser Art reicher, stärker und einfältiger in Rührung der Sinne und Beschäftigung der lebendsten Kräfte; mich dünkt,

Volks entsprungen, unter ihnen lebend und wirkend. Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehört oder gelesen? Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache, Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte. Hier war zwar einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und Handlung, ein Nothdrang ans Herz, schwere Akzente oder scharfe Pfeile für die ofne, wahrheittrunkne Seele. Ihr neuen Romanzer, Kirchenlieder- und Odenversler, könnet ihr das? wirkt ihr das? und werdet ihrs auf Eurem Wege jemals wirken? Für Euch sollen wir alle im Lehnstuhl ruhig schlummern, mit der Puppe spielen, oder das Versebildlein als Kabinetstück auffangen, daß es im klassischen vergoldtem Rahm da zierlich müssig hange.

Wenn Bürger, der die Sprache und das Herz dieser Volksrührung tief kennet, uns einst einen deutschen Helden- oder Thatengesang voll aller Kraft und alles Ganges dieser kleinen Lieder gäbe: ihr Deutsche, wer würde nicht zulaufen, horchen und staunen? Und er kann ihn geben; seine Romanzen, Lieder, selbst sein verdeutschter Homer ist voll dieser Akzente, und bey allen Völkern ist Epopee und selbst Drama nur aus Volkserzählung, Romanze und Lied worden. – Ja wären wir nicht auch weiter, wenn selbst unsre Geschichte und Beredsamkeit den simpeln, starken, nicht übereilten, aber zum Ziel strebenden Gang des deutschen Geistes in That und Rede genommen oder vielmehr behalten hätte: denn in den alten Chroniken, Reden und Schriften ist er schon da. Die liebe Moral und die feine pragmatische Philosophie würde sich jeder Machiavell doch selbst heraus finden können. Ja endlich wäre selbst unsre Erziehung deutscher, an Materialien dieser Art reicher, stärker und einfältiger in Rührung der Sinne und Beschäftigung der lebendsten Kräfte; mich dünkt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0012" n="431"/>
Volks entsprungen, unter ihnen lebend und wirkend. Wer hat nicht   von den Wundern der <hi rendition="#fr">Barden</hi> und <hi rendition="#fr">Skalden</hi>, von den Wirkungen der <hi rendition="#fr">Troubadours,  Minstrels</hi> und Meistersänger gehört oder gelesen? Wie das Volk dastand   und horchte!  was es alles in dem Liede hatte und zu haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge   und Geschichten erhielt, Sprache, Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und   fortpflanzte. Hier war zwar einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und   Klang, voll Gang und Handlung, ein Nothdrang ans Herz, schwere Akzente oder scharfe   Pfeile für die ofne, wahrheittrunkne Seele. Ihr neuen Romanzer, Kirchenlieder-   und Odenversler, könnet ihr das? wirkt ihr das? und werdet ihrs auf Eurem Wege   jemals wirken? Für Euch sollen wir alle im Lehnstuhl ruhig schlummern, mit der   Puppe spielen, oder das Versebildlein als Kabinetstück auffangen, daß es im   klassischen vergoldtem Rahm da zierlich müssig hange.  </p><lb/>
        <p>  Wenn <hi rendition="#fr">Bürger</hi>, der die Sprache und das Herz dieser Volksrührung tief kennet,   uns einst einen deutschen Helden- oder Thatengesang voll aller Kraft und alles   Ganges dieser kleinen Lieder gäbe: ihr Deutsche, wer würde nicht zulaufen,   horchen und staunen? Und er kann ihn geben; seine Romanzen, Lieder, selbst   sein verdeutschter <hi rendition="#fr">Homer</hi> ist voll dieser Akzente, und bey allen Völkern ist   Epopee und selbst Drama nur aus Volkserzählung, Romanze und Lied worden. &#x2013;   Ja wären wir nicht auch weiter, wenn selbst unsre Geschichte und Beredsamkeit   den simpeln, starken, nicht übereilten, aber zum Ziel strebenden Gang des   deutschen Geistes in That und Rede genommen oder vielmehr behalten hätte:   denn in den alten Chroniken, Reden und Schriften ist er schon da. Die liebe   Moral und die feine pragmatische Philosophie würde sich jeder <hi rendition="#fr">Machiavell</hi> doch   selbst heraus finden können. Ja endlich wäre selbst unsre Erziehung deutscher,   an Materialien dieser Art reicher, stärker und einfältiger in Rührung der   Sinne und Beschäftigung der lebendsten Kräfte; mich dünkt,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[431/0012] Volks entsprungen, unter ihnen lebend und wirkend. Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehört oder gelesen? Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache, Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte. Hier war zwar einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und Handlung, ein Nothdrang ans Herz, schwere Akzente oder scharfe Pfeile für die ofne, wahrheittrunkne Seele. Ihr neuen Romanzer, Kirchenlieder- und Odenversler, könnet ihr das? wirkt ihr das? und werdet ihrs auf Eurem Wege jemals wirken? Für Euch sollen wir alle im Lehnstuhl ruhig schlummern, mit der Puppe spielen, oder das Versebildlein als Kabinetstück auffangen, daß es im klassischen vergoldtem Rahm da zierlich müssig hange. Wenn Bürger, der die Sprache und das Herz dieser Volksrührung tief kennet, uns einst einen deutschen Helden- oder Thatengesang voll aller Kraft und alles Ganges dieser kleinen Lieder gäbe: ihr Deutsche, wer würde nicht zulaufen, horchen und staunen? Und er kann ihn geben; seine Romanzen, Lieder, selbst sein verdeutschter Homer ist voll dieser Akzente, und bey allen Völkern ist Epopee und selbst Drama nur aus Volkserzählung, Romanze und Lied worden. – Ja wären wir nicht auch weiter, wenn selbst unsre Geschichte und Beredsamkeit den simpeln, starken, nicht übereilten, aber zum Ziel strebenden Gang des deutschen Geistes in That und Rede genommen oder vielmehr behalten hätte: denn in den alten Chroniken, Reden und Schriften ist er schon da. Die liebe Moral und die feine pragmatische Philosophie würde sich jeder Machiavell doch selbst heraus finden können. Ja endlich wäre selbst unsre Erziehung deutscher, an Materialien dieser Art reicher, stärker und einfältiger in Rührung der Sinne und Beschäftigung der lebendsten Kräfte; mich dünkt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer): Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-12T13:46:53Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-12T13:46:53Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: nicht gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/12
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/12>, abgerufen am 25.04.2024.