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Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

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dichtet. - Eine kleine Sammlung solcher Lieder aus dem Munde eines jeden Volks, über die vornehmsten Gegenstände und Handlungen ihres Lebens, in eigner Sprache, zugleich gehörig verstanden, erklärt, mit Musik begleitet: wie würde es die Artikel beleben, auf die der Menschenkenner bey allen Reisebeschreibungen doch immer am begierigsten ist "von Denkart und Sitten der Nazion! von ihrer Wissenschaft und Sprache! von Spiel und Tanz, Musik und Götterlehre." Von alle diesem bekämen wir doch bessere Begriffe als durch Plappereyen des Reisebeschreibers, oder als durch ein in ihrer Sprache aufgenommenes - - - Vater-Unser! Wie Naturgeschichte Kräuter und Thiere beschreibt, so schilderten sich hier die Völker selbst. Man bekäme von Allem anschauenden Begrif, und durch die Aehnlichkeit oder Abweichung dieser Lieder an Sprache, Inhalt und Tönen, insonderheit in Ideen der Kosmogonie und der Geschichte ihrer Väter liesse sich auf die Abstammung, Fortpflanzung und Vermischung der Völker wie viel und wie sicher schliessen!

Und doch sind selbst in Europa noch eine Reihe Nazionen, auf diese Weise unbenuzt, unbeschrieben. Esthen und Letten, Wenden und Slaven, Polen und Russen, Friesen und Preussen - ihre Gesänge der Art sind nicht so gesammlet, als die Lieder der Isländer, Dänen, Schweden, geschweige der Engländer, Hersen und Britten oder gar der südlichen Völker. Und unter ihnen sind doch so manche Personen, denen es Amt und Arbeit ist, die Sprache, Sitte, Denkart, alte Vorurtheile und Gebräuche ihrer Nazion zu studiren! und andern Nazionen gäben sie hiemit die lebendigste Grammatik, das beste Wörterbuch und Naturgeschichte ihres Volks in die Hände. Nur sie müssen es geben, wie es ist, in der Ursprache und mit gnugsamer Erklärung, ungeschimpft und unverspottet, so wie unverschönt und unveredelt: wo möglich mit Gesangweise und Alles, was zum Leben des Volks gehört. Wenn sies nicht brauchen können, könnens andre brauchen.

dichtet. – Eine kleine Sammlung solcher Lieder aus dem Munde eines jeden Volks, über die vornehmsten Gegenstände und Handlungen ihres Lebens, in eigner Sprache, zugleich gehörig verstanden, erklärt, mit Musik begleitet: wie würde es die Artikel beleben, auf die der Menschenkenner bey allen Reisebeschreibungen doch immer am begierigsten ist "von Denkart und Sitten der Nazion! von ihrer Wissenschaft und Sprache! von Spiel und Tanz, Musik und Götterlehre." Von alle diesem bekämen wir doch bessere Begriffe als durch Plappereyen des Reisebeschreibers, oder als durch ein in ihrer Sprache aufgenommenes – – – Vater-Unser! Wie Naturgeschichte Kräuter und Thiere beschreibt, so schilderten sich hier die Völker selbst. Man bekäme von Allem anschauenden Begrif, und durch die Aehnlichkeit oder Abweichung dieser Lieder an Sprache, Inhalt und Tönen, insonderheit in Ideen der Kosmogonie und der Geschichte ihrer Väter liesse sich auf die Abstammung, Fortpflanzung und Vermischung der Völker wie viel und wie sicher schliessen!

Und doch sind selbst in Europa noch eine Reihe Nazionen, auf diese Weise unbenuzt, unbeschrieben. Esthen und Letten, Wenden und Slaven, Polen und Russen, Friesen und Preussen – ihre Gesänge der Art sind nicht so gesammlet, als die Lieder der Isländer, Dänen, Schweden, geschweige der Engländer, Hersen und Britten oder gar der südlichen Völker. Und unter ihnen sind doch so manche Personen, denen es Amt und Arbeit ist, die Sprache, Sitte, Denkart, alte Vorurtheile und Gebräuche ihrer Nazion zu studiren! und andern Nazionen gäben sie hiemit die lebendigste Grammatik, das beste Wörterbuch und Naturgeschichte ihres Volks in die Hände. Nur sie müssen es geben, wie es ist, in der Ursprache und mit gnugsamer Erklärung, ungeschimpft und unverspottet, so wie unverschönt und unveredelt: wo möglich mit Gesangweise und Alles, was zum Leben des Volks gehört. Wenn sies nicht brauchen können, könnens andre brauchen.

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[433/0014] dichtet. – Eine kleine Sammlung solcher Lieder aus dem Munde eines jeden Volks, über die vornehmsten Gegenstände und Handlungen ihres Lebens, in eigner Sprache, zugleich gehörig verstanden, erklärt, mit Musik begleitet: wie würde es die Artikel beleben, auf die der Menschenkenner bey allen Reisebeschreibungen doch immer am begierigsten ist "von Denkart und Sitten der Nazion! von ihrer Wissenschaft und Sprache! von Spiel und Tanz, Musik und Götterlehre." Von alle diesem bekämen wir doch bessere Begriffe als durch Plappereyen des Reisebeschreibers, oder als durch ein in ihrer Sprache aufgenommenes – – – Vater-Unser! Wie Naturgeschichte Kräuter und Thiere beschreibt, so schilderten sich hier die Völker selbst. Man bekäme von Allem anschauenden Begrif, und durch die Aehnlichkeit oder Abweichung dieser Lieder an Sprache, Inhalt und Tönen, insonderheit in Ideen der Kosmogonie und der Geschichte ihrer Väter liesse sich auf die Abstammung, Fortpflanzung und Vermischung der Völker wie viel und wie sicher schliessen! Und doch sind selbst in Europa noch eine Reihe Nazionen, auf diese Weise unbenuzt, unbeschrieben. Esthen und Letten, Wenden und Slaven, Polen und Russen, Friesen und Preussen – ihre Gesänge der Art sind nicht so gesammlet, als die Lieder der Isländer, Dänen, Schweden, geschweige der Engländer, Hersen und Britten oder gar der südlichen Völker. Und unter ihnen sind doch so manche Personen, denen es Amt und Arbeit ist, die Sprache, Sitte, Denkart, alte Vorurtheile und Gebräuche ihrer Nazion zu studiren! und andern Nazionen gäben sie hiemit die lebendigste Grammatik, das beste Wörterbuch und Naturgeschichte ihres Volks in die Hände. Nur sie müssen es geben, wie es ist, in der Ursprache und mit gnugsamer Erklärung, ungeschimpft und unverspottet, so wie unverschönt und unveredelt: wo möglich mit Gesangweise und Alles, was zum Leben des Volks gehört. Wenn sies nicht brauchen können, könnens andre brauchen.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/14>, abgerufen am 28.03.2024.