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Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

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nicht fehlen: hier ist aber eben die Frage, warum wir keine Shakespeare und Spenser gehabt haben?

Der Strich romantischer Denkart läuft über Europa; wie nun aber über Deutschland besonders? Kann man beweisen, daß es wirklich seine Lieblingshelden, Originalsujets, Nazional- und Kindermythologien gehabt und mit eignem Gepräge bearbeitet habe? Parcival, Melusine, Magellone, Artus, die Ritter von der Tafelrunde, die Rolandsmährchen sind fremdes Gut; sollten die Deutschen denn von jeher bestimmt gewesen seyn, nur zu übersezen, nur nachzuahmen? Unser Heldenbuch singt von Dietrich, von dem aber auch alle Nordländer singen; wie weit hinauf zieht sichs, daß dieser Held deutsch oder romantisch ist besungen worden? Gehört er uns zu, wie Roland, Arthur, Fingal, Achill, Aeneas andern Nazionen? Noch bey Hostings sangen die Angelsachsen the Horne-Child, dessen Sage noch in der harleyischen Sammlung zu Oxford liegt: wo ist er her? wie weit ist er unser? Ich freue mich unendlich auf die Arbeiten eines gelehrten jungen Mannes in diesem Felde, dem ich bey kritischem Scharfsinn zugleich völlige Toleranz jeder Sitte, Zeit und Denkart zur Muse und dann die Bibliotheken zu Rom, Oxford, Wien, St. Gallen, im Eskurial u.f. zu Gefährten wünschte. Rittergeist der mittlern Zeiten, in welchem Pallaste würdest du weben!

Auch die gemeinen Volkssagen, Mährchen und Mythologie gehören hieher. Sie sind gewissermassen Resultat des Volksglaubens, seiner sinnlichen Anschauung, Kräfte und Triebe, wo man träumt, weil man nicht weis, glaubt, weil man nicht siehet und mit der ganzen, unzertheilten und ungebildeten Seele wirket: also ein grosser Gegenstand für den Geschichtschreiber der Menschheit, den Poeten und Poetiker und Philosophen. Sagen Einer Art haben sich mit den nordischen Völkern über viel Länder und Zeiten ergossen, jeden Orts aber und in jeder Zeit sich anders gestaltet; wie trift das nun auf Deutschland? Wo sind die allgemeinsten und sonderbarsten Volkssagen entsprungen? wie gewandert?

nicht fehlen: hier ist aber eben die Frage, warum wir keine Shakespeare und Spenser gehabt haben?

Der Strich romantischer Denkart läuft über Europa; wie nun aber über Deutschland besonders? Kann man beweisen, daß es wirklich seine Lieblingshelden, Originalsujets, Nazional- und Kindermythologien gehabt und mit eignem Gepräge bearbeitet habe? Parcival, Melusine, Magellone, Artus, die Ritter von der Tafelrunde, die Rolandsmährchen sind fremdes Gut; sollten die Deutschen denn von jeher bestimmt gewesen seyn, nur zu übersezen, nur nachzuahmen? Unser Heldenbuch singt von Dietrich, von dem aber auch alle Nordländer singen; wie weit hinauf zieht sichs, daß dieser Held deutsch oder romantisch ist besungen worden? Gehört er uns zu, wie Roland, Arthur, Fingal, Achill, Aeneas andern Nazionen? Noch bey Hostings sangen die Angelsachsen the Horne-Child, dessen Sage noch in der harleyischen Sammlung zu Oxford liegt: wo ist er her? wie weit ist er unser? Ich freue mich unendlich auf die Arbeiten eines gelehrten jungen Mannes in diesem Felde, dem ich bey kritischem Scharfsinn zugleich völlige Toleranz jeder Sitte, Zeit und Denkart zur Muse und dann die Bibliotheken zu Rom, Oxford, Wien, St. Gallen, im Eskurial u.f. zu Gefährten wünschte. Rittergeist der mittlern Zeiten, in welchem Pallaste würdest du weben!

Auch die gemeinen Volkssagen, Mährchen und Mythologie gehören hieher. Sie sind gewissermassen Resultat des Volksglaubens, seiner sinnlichen Anschauung, Kräfte und Triebe, wo man träumt, weil man nicht weis, glaubt, weil man nicht siehet und mit der ganzen, unzertheilten und ungebildeten Seele wirket: also ein grosser Gegenstand für den Geschichtschreiber der Menschheit, den Poeten und Poetiker und Philosophen. Sagen Einer Art haben sich mit den nordischen Völkern über viel Länder und Zeiten ergossen, jeden Orts aber und in jeder Zeit sich anders gestaltet; wie trift das nun auf Deutschland? Wo sind die allgemeinsten und sonderbarsten Volkssagen entsprungen? wie gewandert?

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[424/0005] nicht fehlen: hier ist aber eben die Frage, warum wir keine Shakespeare und Spenser gehabt haben? Der Strich romantischer Denkart läuft über Europa; wie nun aber über Deutschland besonders? Kann man beweisen, daß es wirklich seine Lieblingshelden, Originalsujets, Nazional- und Kindermythologien gehabt und mit eignem Gepräge bearbeitet habe? Parcival, Melusine, Magellone, Artus, die Ritter von der Tafelrunde, die Rolandsmährchen sind fremdes Gut; sollten die Deutschen denn von jeher bestimmt gewesen seyn, nur zu übersezen, nur nachzuahmen? Unser Heldenbuch singt von Dietrich, von dem aber auch alle Nordländer singen; wie weit hinauf zieht sichs, daß dieser Held deutsch oder romantisch ist besungen worden? Gehört er uns zu, wie Roland, Arthur, Fingal, Achill, Aeneas andern Nazionen? Noch bey Hostings sangen die Angelsachsen the Horne-Child, dessen Sage noch in der harleyischen Sammlung zu Oxford liegt: wo ist er her? wie weit ist er unser? Ich freue mich unendlich auf die Arbeiten eines gelehrten jungen Mannes in diesem Felde, dem ich bey kritischem Scharfsinn zugleich völlige Toleranz jeder Sitte, Zeit und Denkart zur Muse und dann die Bibliotheken zu Rom, Oxford, Wien, St. Gallen, im Eskurial u.f. zu Gefährten wünschte. Rittergeist der mittlern Zeiten, in welchem Pallaste würdest du weben! Auch die gemeinen Volkssagen, Mährchen und Mythologie gehören hieher. Sie sind gewissermassen Resultat des Volksglaubens, seiner sinnlichen Anschauung, Kräfte und Triebe, wo man träumt, weil man nicht weis, glaubt, weil man nicht siehet und mit der ganzen, unzertheilten und ungebildeten Seele wirket: also ein grosser Gegenstand für den Geschichtschreiber der Menschheit, den Poeten und Poetiker und Philosophen. Sagen Einer Art haben sich mit den nordischen Völkern über viel Länder und Zeiten ergossen, jeden Orts aber und in jeder Zeit sich anders gestaltet; wie trift das nun auf Deutschland? Wo sind die allgemeinsten und sonderbarsten Volkssagen entsprungen? wie gewandert?

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/5>, abgerufen am 28.03.2024.