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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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lung, Würkung der Seele ist, seyn müssen?
wie es blos an dieser Seele liege, sich Raum,
Welt und Zeitmaaß zu schaffen, wie und
wo sie will? Und hättest du das nur Ein-
mal in deinem Leben gefühlt, wärest nach
Einer Viertheilstunde erwacht, und der dunkle
Rest deiner Traumhandlungen hätte dich
schwören gemacht, du habest Nächte hinweg
geschlafen, geträumt und gehandelt! --
dürfte dir Mahomeds Traum, als Traum,
noch Einen Augenblick ungereimt seyn! und
wäre es nicht eben jedes Genies, jedes Dich-
ters, und des dramatischen Dichters inson-
derheit Erste und Einzige Pflicht, dich in
Einen solchen Traum zu setzen? Und nun
denke, welche Welten du verwirrest, wenn
du dem Dichter deine Taschenuhr, oder dein
Visitenzimmer vorzeigest, daß er dahin und
darnach dich träumen lehre?

Jm Gange seiner Begebenheit, im ordine
succcssivorum
und simultaneorum seiner
Welt, da liegt sein Raum und Zeit. Wie,
und wo er dich hinreisse? wenn er dich nur
dahin reißt, da ist seine Welt. Wie schnell
und langsam er die Zeiten folgen lasse; er läßt
sie folgen; er drückt dir diese Folge ein: das
ist sein Zeitmaaß -- und wie ist hier wieder
Shakespear Meister! langsam und schwer-
fällig fangen seine Begebenheiten an, in sei-

ner

lung, Wuͤrkung der Seele iſt, ſeyn muͤſſen?
wie es blos an dieſer Seele liege, ſich Raum,
Welt und Zeitmaaß zu ſchaffen, wie und
wo ſie will? Und haͤtteſt du das nur Ein-
mal in deinem Leben gefuͤhlt, waͤreſt nach
Einer Viertheilſtunde erwacht, und der dunkle
Reſt deiner Traumhandlungen haͤtte dich
ſchwoͤren gemacht, du habeſt Naͤchte hinweg
geſchlafen, getraͤumt und gehandelt! —
duͤrfte dir Mahomeds Traum, als Traum,
noch Einen Augenblick ungereimt ſeyn! und
waͤre es nicht eben jedes Genies, jedes Dich-
ters, und des dramatiſchen Dichters inſon-
derheit Erſte und Einzige Pflicht, dich in
Einen ſolchen Traum zu ſetzen? Und nun
denke, welche Welten du verwirreſt, wenn
du dem Dichter deine Taſchenuhr, oder dein
Viſitenzimmer vorzeigeſt, daß er dahin und
darnach dich traͤumen lehre?

Jm Gange ſeiner Begebenheit, im ordine
ſucccſſivorum
und ſimultaneorum ſeiner
Welt, da liegt ſein Raum und Zeit. Wie,
und wo er dich hinreiſſe? wenn er dich nur
dahin reißt, da iſt ſeine Welt. Wie ſchnell
und langſam er die Zeiten folgen laſſe; er laͤßt
ſie folgen; er druͤckt dir dieſe Folge ein: das
iſt ſein Zeitmaaß — und wie iſt hier wieder
Shakeſpear Meiſter! langſam und ſchwer-
faͤllig fangen ſeine Begebenheiten an, in ſei-

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[107/0111] lung, Wuͤrkung der Seele iſt, ſeyn muͤſſen? wie es blos an dieſer Seele liege, ſich Raum, Welt und Zeitmaaß zu ſchaffen, wie und wo ſie will? Und haͤtteſt du das nur Ein- mal in deinem Leben gefuͤhlt, waͤreſt nach Einer Viertheilſtunde erwacht, und der dunkle Reſt deiner Traumhandlungen haͤtte dich ſchwoͤren gemacht, du habeſt Naͤchte hinweg geſchlafen, getraͤumt und gehandelt! — duͤrfte dir Mahomeds Traum, als Traum, noch Einen Augenblick ungereimt ſeyn! und waͤre es nicht eben jedes Genies, jedes Dich- ters, und des dramatiſchen Dichters inſon- derheit Erſte und Einzige Pflicht, dich in Einen ſolchen Traum zu ſetzen? Und nun denke, welche Welten du verwirreſt, wenn du dem Dichter deine Taſchenuhr, oder dein Viſitenzimmer vorzeigeſt, daß er dahin und darnach dich traͤumen lehre? Jm Gange ſeiner Begebenheit, im ordine ſucccſſivorum und ſimultaneorum ſeiner Welt, da liegt ſein Raum und Zeit. Wie, und wo er dich hinreiſſe? wenn er dich nur dahin reißt, da iſt ſeine Welt. Wie ſchnell und langſam er die Zeiten folgen laſſe; er laͤßt ſie folgen; er druͤckt dir dieſe Folge ein: das iſt ſein Zeitmaaß — und wie iſt hier wieder Shakeſpear Meiſter! langſam und ſchwer- faͤllig fangen ſeine Begebenheiten an, in ſei- ner

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/111>, abgerufen am 25.11.2024.