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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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von einer zur andern mit den sonderbarsten Sprün-
gen! Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fort-
gehender Faden der Empfindung, des Plans, des
Zwecks -- R. Tod Jesu ist ein erbauliches, nütz-
liches Werk, das ich in solchem Betracht tausend-
mal beneidet habe! Jede Arie ist fast ein schönes
Ganze! Viele Recitative auch -- aber als poeti-
sches Werk des Genies -- für die Musik! -- Hr.
R. hat selbst ein viel zu feines Gefühl, als daß er
das nicht weit inniger bemerke.

Seine Hirten bey der Krippe! Welche Poesie
für die Musik? welch ein Plan? welch ein Ganzes?
Das Vordere zu hinterst, und es ist fast noch immer
derselbe Eindruck! Johlleneindruck, wo lauter
Schäferbilder und Worte und von Anfang bis zu
Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenseele ist! bloß
eine Maske Jesaias, Virgils und Pope in Schäfer-
kleidern! -- Und endlich Poesie zur Musik -- wo im
ganzen Stück nur Bilder, und keine Empfindung!
Bilder für die Leinwand, (da die Lanze z. E. Zeilen
hindurch in die Erde wurzelt, empor strebt, steht,
grünt, wird ein Palmbaum u. s. w.) durchaus nicht
für den Tonschöpfer! So weiterhin und was wäre
von seiner Auferstehung zu sagen?

Und nun, wie bearbeiten unsre Tonkünstler das
Alles nach dem einmal hergebrachten Leisten?
Da doch eben der Ursprung dieses Leistens, die Um-
stände, unter welchen er entstanden u. s. w. wo nicht
Jedermann, so doch gewiß uns Deutschen zurufen
müste: "nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hin-
"ten! und es wird ewig Schande seyn, einen Mün-
"ter
an Metastasio zu messen!" Was das aber
nun für eine Gattung Poesie sey, die wahre Mit-
telgattung zwischen Gemälde und Musik! und was
das für eine Gattung Musik sey, die über Poesie
nicht herrschet -- -- --



III.

von einer zur andern mit den ſonderbarſten Spruͤn-
gen! Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fort-
gehender Faden der Empfindung, des Plans, des
Zwecks — R. Tod Jeſu iſt ein erbauliches, nuͤtz-
liches Werk, das ich in ſolchem Betracht tauſend-
mal beneidet habe! Jede Arie iſt faſt ein ſchoͤnes
Ganze! Viele Recitative auch — aber als poeti-
ſches Werk des Genies — fuͤr die Muſik! — Hr.
R. hat ſelbſt ein viel zu feines Gefuͤhl, als daß er
das nicht weit inniger bemerke.

Seine Hirten bey der Krippe! Welche Poeſie
fuͤr die Muſik? welch ein Plan? welch ein Ganzes?
Das Vordere zu hinterſt, und es iſt faſt noch im̃er
derſelbe Eindruck! Johlleneindruck, wo lauter
Schaͤferbilder und Worte und von Anfang bis zu
Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenſeele iſt! bloß
eine Maſke Jeſaias, Virgils und Pope in Schaͤfer-
kleidern! — Und endlich Poeſie zur Muſik — wo im
ganzen Stuͤck nur Bilder, und keine Empfindung!
Bilder fuͤr die Leinwand, (da die Lanze z. E. Zeilen
hindurch in die Erde wurzelt, empor ſtrebt, ſteht,
gruͤnt, wird ein Palmbaum u. ſ. w.) durchaus nicht
fuͤr den Tonſchoͤpfer! So weiterhin und was waͤre
von ſeiner Auferſtehung zu ſagen?

Und nun, wie bearbeiten unſre Tonkuͤnſtler das
Alles nach dem einmal hergebrachten Leiſten?
Da doch eben der Urſprung dieſes Leiſtens, die Um-
ſtaͤnde, unter welchen er entſtanden u. ſ. w. wo nicht
Jedermann, ſo doch gewiß uns Deutſchen zurufen
muͤſte: „nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hin-
„ten! und es wird ewig Schande ſeyn, einen Muͤn-
„ter
an Metaſtaſio zu meſſen!„ Was das aber
nun fuͤr eine Gattung Poeſie ſey, die wahre Mit-
telgattung zwiſchen Gemaͤlde und Muſik! und was
das fuͤr eine Gattung Muſik ſey, die uͤber Poeſie
nicht herrſchet — — —



III.
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[118/0122] von einer zur andern mit den ſonderbarſten Spruͤn- gen! Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fort- gehender Faden der Empfindung, des Plans, des Zwecks — R. Tod Jeſu iſt ein erbauliches, nuͤtz- liches Werk, das ich in ſolchem Betracht tauſend- mal beneidet habe! Jede Arie iſt faſt ein ſchoͤnes Ganze! Viele Recitative auch — aber als poeti- ſches Werk des Genies — fuͤr die Muſik! — Hr. R. hat ſelbſt ein viel zu feines Gefuͤhl, als daß er das nicht weit inniger bemerke. Seine Hirten bey der Krippe! Welche Poeſie fuͤr die Muſik? welch ein Plan? welch ein Ganzes? Das Vordere zu hinterſt, und es iſt faſt noch im̃er derſelbe Eindruck! Johlleneindruck, wo lauter Schaͤferbilder und Worte und von Anfang bis zu Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenſeele iſt! bloß eine Maſke Jeſaias, Virgils und Pope in Schaͤfer- kleidern! — Und endlich Poeſie zur Muſik — wo im ganzen Stuͤck nur Bilder, und keine Empfindung! Bilder fuͤr die Leinwand, (da die Lanze z. E. Zeilen hindurch in die Erde wurzelt, empor ſtrebt, ſteht, gruͤnt, wird ein Palmbaum u. ſ. w.) durchaus nicht fuͤr den Tonſchoͤpfer! So weiterhin und was waͤre von ſeiner Auferſtehung zu ſagen? Und nun, wie bearbeiten unſre Tonkuͤnſtler das Alles nach dem einmal hergebrachten Leiſten? Da doch eben der Urſprung dieſes Leiſtens, die Um- ſtaͤnde, unter welchen er entſtanden u. ſ. w. wo nicht Jedermann, ſo doch gewiß uns Deutſchen zurufen muͤſte: „nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hin- „ten! und es wird ewig Schande ſeyn, einen Muͤn- „ter an Metaſtaſio zu meſſen!„ Was das aber nun fuͤr eine Gattung Poeſie ſey, die wahre Mit- telgattung zwiſchen Gemaͤlde und Muſik! und was das fuͤr eine Gattung Muſik ſey, die uͤber Poeſie nicht herrſchet — — — III.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/122>, abgerufen am 26.11.2024.