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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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Jch würd' ihn ersteigen, den Gipfel, meine
Blumenfreundinn zu sehn!
Jch würd ihn bescheeren, ihm alle Zweige, seine
grünen Zweige stümmeln --
Hätt' ich Flügel, zu dir zu fliegen, Flügel der
Krähen
Dem Laufe der Wolken folgt' ich, ziehend zum
Orra-See!
Aber mir mangeln die Flügel! Enteflügel!
Füsse der Ente!
Rudernde Füsse der Gänse, die mich zu dir
bringen!
O du hast lange gewartet, so viel Tage!
schöne Tage,
Du mit erquickenden Augen, mit deinem freund-
lichen Herzen! --
Was ist stärker, als Flechte Sehnen! als eisene,
mächtige Ketten
So fesselt uns die Liebe, die Umschafferinn Sinns
und Willens:
Denn der Wille des liebenden Jünglings ist
Windesgang
Die Gedanken des Liebenden lange Gedanken!
Folgt ich ihnen allen, ich irrte vom rechten
Weg' ab.
Drum bleibt mir Ein Entschluß, die sichre Bahn
zu gehn!

Es ist, wie gesagt, aus der dritten Hand, die-
ses lappländische Lied -- Aber noch immer,
wie natürlich, wie sehnlich sinnet der junge,
begehrende Lappländer, dem sein Weg zu lange
wird, dem Alles, was er sieht, Sonne und
Wipfel und Wolke und Krähe und Ruderfüsse

sich
Jch wuͤrd’ ihn erſteigen, den Gipfel, meine
Blumenfreundinn zu ſehn!
Jch wuͤrd ihn beſcheeren, ihm alle Zweige, ſeine
gruͤnen Zweige ſtuͤmmeln —
Haͤtt’ ich Fluͤgel, zu dir zu fliegen, Fluͤgel der
Kraͤhen
Dem Laufe der Wolken folgt’ ich, ziehend zum
Orra-See!
Aber mir mangeln die Fluͤgel! Entefluͤgel!
Fuͤſſe der Ente!
Rudernde Fuͤſſe der Gaͤnſe, die mich zu dir
bringen!
O du haſt lange gewartet, ſo viel Tage!
ſchoͤne Tage,
Du mit erquickenden Augen, mit deinem freund-
lichen Herzen! —
Was iſt ſtaͤrker, als Flechte Sehnen! als eiſene,
maͤchtige Ketten
So feſſelt uns die Liebe, die Umſchafferinn Sinns
und Willens:
Denn der Wille des liebenden Juͤnglings iſt
Windesgang
Die Gedanken des Liebenden lange Gedanken!
Folgt ich ihnen allen, ich irrte vom rechten
Weg’ ab.
Drum bleibt mir Ein Entſchluß, die ſichre Bahn
zu gehn!

Es iſt, wie geſagt, aus der dritten Hand, die-
ſes lapplaͤndiſche Lied — Aber noch immer,
wie natuͤrlich, wie ſehnlich ſinnet der junge,
begehrende Lapplaͤnder, dem ſein Weg zu lange
wird, dem Alles, was er ſieht, Sonne und
Wipfel und Wolke und Kraͤhe und Ruderfuͤſſe

ſich
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[24/0028] Jch wuͤrd’ ihn erſteigen, den Gipfel, meine Blumenfreundinn zu ſehn! Jch wuͤrd ihn beſcheeren, ihm alle Zweige, ſeine gruͤnen Zweige ſtuͤmmeln — Haͤtt’ ich Fluͤgel, zu dir zu fliegen, Fluͤgel der Kraͤhen Dem Laufe der Wolken folgt’ ich, ziehend zum Orra-See! Aber mir mangeln die Fluͤgel! Entefluͤgel! Fuͤſſe der Ente! Rudernde Fuͤſſe der Gaͤnſe, die mich zu dir bringen! O du haſt lange gewartet, ſo viel Tage! ſchoͤne Tage, Du mit erquickenden Augen, mit deinem freund- lichen Herzen! — Was iſt ſtaͤrker, als Flechte Sehnen! als eiſene, maͤchtige Ketten So feſſelt uns die Liebe, die Umſchafferinn Sinns und Willens: Denn der Wille des liebenden Juͤnglings iſt Windesgang Die Gedanken des Liebenden lange Gedanken! Folgt ich ihnen allen, ich irrte vom rechten Weg’ ab. Drum bleibt mir Ein Entſchluß, die ſichre Bahn zu gehn! Es iſt, wie geſagt, aus der dritten Hand, die- ſes lapplaͤndiſche Lied — Aber noch immer, wie natuͤrlich, wie ſehnlich ſinnet der junge, begehrende Lapplaͤnder, dem ſein Weg zu lange wird, dem Alles, was er ſieht, Sonne und Wipfel und Wolke und Kraͤhe und Ruderfuͤſſe ſich

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/28>, abgerufen am 01.05.2024.